0925 - Blutzoll
zählte drei Männer und zwei Frauen, die auf dem Boden lagen und schliefen. Als Unterlage hatten sie sich alte Kartondeckel ausgesucht.
Wir gingen an ihnen vorbei, betraten den Hof, der auch am Tage kaum etwas von seiner Düsternis verloren hatte. Noch immer warfen die Wände Schatten, die sich grau auf dem Boden abzeichneten, und das Licht der Sonne erfaßte das Geviert noch nicht.
Lao Fang drehte sich immer wieder zu mir um, weil er sichergehen wollte, daß ich ihm folgte. Ich nickte ihm beruhigend zu, nur vergaß ich dabei mein Lächeln.
Wir schritten die Treppe hoch. Der Chinese blieb auf der zweitletzten Stufe stehen. »Hier habe ich es gesehen!« flüsterte er und deutete auf die Tür, bevor er die Umrisse mit den Händen nachzeichnete.
»Wo genau?«
»Überall. An den Rändern, auch unten ist es hervorgequollen. Sie müssen es sehen können und…«
Er brach ab, denn er schaute zu, wie ich mich gebückt hatte. In diesem Augenblick sah er das gleiche wie ich, nämlich nichts.
»Sorry, Mr. Fang, aber da ist nichts.«
Er schwieg.
Ich suchte noch einmal die Tür ab und richtete mich wieder auf. »Tut mir leid, ich sehe nichts.«
Der Mann sah aus wie ein Schulkind, das vor seinem Lehrer steht, etwas weiß, es aber vor Aufregung vergessen hat. Hätte nur gefehlt, daß er sich in den Handballen gebissen hätte. »Das verstehe ich nicht, Mr. Sinclair. Es war da - wirklich. Hoffentlich halten Sie mich jetzt nicht für einen Lügner. Ich bin es nicht, denn ich habe das Blut gesehen. Überdeutlich. Es war frisch, noch nicht eingetrocknet. Es hat da gelegen, es malte sich sehr deutlich ab, und ich weiß nicht, wo es hergekommen ist. Aus der Luft, aus dem Boden, aus der Tür, dem Mauerwerk - ich habe keine Ahnung.«
»Gesetzt den Fall, ich glauben Ihnen…«
»Das müssen Sie auch, Mr. Sinclair«, sagte er beinahe hechelnd. »Das müssen Sie wirklich.«
»Ja, okay. Ich glaube Ihnen also. Dann frage ich mich allerdings, woher das Blut gekommen ist.«
Lao Fang hob die Schultern.
»Sie kennen das Haus besser als ich.«
»Ja und nein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es ist doch leer. Die Leute sind geflohen. Hier haben früher die Näherinnen gearbeitet, das Spiel kennen Sie ja«, sagte er und winkte dabei ab. »Aber dann verließen sie das Haus fluchtartig.«
»Und Sie haben wirklich nichts über die Gründe erfahren?«
»Nein, habe ich nicht. Nichts Genaues. Sie sprach von denn bösen Hauch, der in diesem Haus hockt. Ich komme damit nicht mehr zurecht, Mr. Sinclair. Ich bin einfach überfragt.«
»Gut, lassen wir das so.«
Meine Antwort hatte ihm nicht gefallen, denn er sagte: »Das klang so endgültig.«
»Meinen Sie?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Es ist auch endgültig gewesen.«
Lao Fang war enttäuscht. »Dann geben Sie auf?« flüsterte er und konnte es kaum fassen. »Geben auch Sie auf, Mr. Sinclair? Das ist kaum zu fassen. Da komme ich nicht mit. Das verstehe ich einfach nicht. Ausgerechnet Sie.«
»Von Aufgabe habe ich nichts gesagt, Mr. Lao Fang. Im Gegenteil, ich fange ja erst an.«
»Womit?«
»Lassen Sie sich überraschen.«
Er schwieg. Dann richtete er seinen Blick zu Boden, hob die Schultern und drückte sich an mir vorbei, um die Treppe wieder hinab in den Hof zu gehen. »Sie verstehen, daß ich - nun ja…«
»Das verstehe ich nur zu gut. Ist die Tür offen?«
»Bestimmt.«
Sie war offen. Ich drückte sie nach innen und betrat wenig später wieder einmal diesen unheimlichen Anbau. Diesmal würde ich nicht so schnell aufgeben, das stand fest…
***
Gefangen!
Starre erleben, sich nicht bewegen zu können. Von einer anderen Hand dirigiert zu werden, das alles erlebte Suko, der sich vorkam wie eine Statue, deren Gehirn allerdings noch funktionierte. Nur war er nicht in der Lage - ähnlich wie Shao - von seinem eigenen Körper Notiz zu nehmen. Er existierte so gut wie nicht.
Dafür konnte er sehen und sich genau das anschauen, was sich in seiner Umgebung abzeichnete.
Zwei Gestalten - Männer, mit Gesichtern, die keine waren, denn Suko sah sie nur als Schatten. Sie standen neben einem Grab, in das sie einen Menschen bei lebendigem Leib hineingelegt und dann zugeschaufelt hatten. Suko hatte dies alles mit ansehen müssen, doch er war nicht angegriffen worden.
Er war und blieb Zuschauer.
Es passierte nichts.
Er blieb eingeschlossen.
Zeit verging.
Für ihn war sie unwichtig geworden. Diese Konstante existierte einfach nicht mehr. Er wußte nicht, ob Tage oder nur Stunden
Weitere Kostenlose Bücher