0938 - Die Blutgasse
seinem Blickfeld. Er sah alles an ihr, und er hörte auch, was hinter ihr passierte.
Die Schläge hatten an Lautstärke zugenommen. Das Holz war hart und stabil, doch es würde einem permanenten Druck nicht standhalten können.
Flucht!
Es war die einzige Möglichkeit. Er hätte schon längst weg sein müssen.
Auf der anderen Seite aber war die Furcht zu groß, denn wenn ER erschien, gab es nicht die Spur einer Chance.
In diesem Augenblick geschah es.
Die Tür gab nach. Sie brach unter dem gewaltigen Ansturm dieser Masse an Leibern auf. Im Schloß knackte und knirschte es. Toby hörte den Krach und das Splittern, und für einen Augenblick sah er etwas Breites, Schwarzes auf sich zufliegen, das zugleich starr war.
Die Tür erwischte ihn nicht: sie huschte dicht an ihm vorbei und knallte gegen die Wand.
Jetzt war der Weg frei.
Sie quollen aus dem Zimmer hervor wie eine menschliche Pest. Sie waren eine blutgierige und wilde Masse, die nun das Opfer vor sich sahen, das diesem Schrecken nichts entgegensetzen konnte. An einen Vampir hatte er sich gewöhnt, aber nicht an diese schrecklichen Blutsauger, denen die Gier in den weit geöffneten Augen stand.
Die kleine Armee der Obdachlosen hatte sich in blutgierige Monster verwandelt und sich freie Bahn geschaffen. Jeder wollte zuerst an das frische Blut, und sie behinderten sich gegenseitig.
Wäre Toby nicht so erstarrt gewesen, er hätte sicherlich noch eine Chance gehabt, auf die Wohnungstür zuzurennen. Doch einer der Vampire wurde nicht nur von den hinter ihm stehenden nach vorn gedrängt, sondern auch zur Seite, und ausgerechnet er versperrte ihm den Weg zur Tür.
Da kam er nicht mehr hin.
Wohin dann?
Es gab nur die eine Möglichkeit. Zurück in das Zimmer mit den beiden Fenstern.
Der Gedanke war ihm kaum gekommen, als er ihn schon in die Tat umsetzte.
Seine Knie zitterten, die Beine waren wie Blei, aber er schaffte die Drehung nach links und lief weg.
Jemand schlug nach ihm.
Eine Vampirhand erwischte ihn an der linken Schulter. Zum Glück schafften es die Finger nicht, sich dort festzuklammern. Die Hand rutschte ab, und Toby rannte weiter.
Er wußte, daß es nicht nur knapp, sondern sehr knapp werden würde…
***
Es war plötzlich still zwischen uns geworden, selbst Ed Moss saß auf seinem Platz wie angenagelt.
Bill schaute mich an, ich runzelte die Stirn und übernahm das Wort.
»Noch einmal, Anni, was hast du da eben gesagt? Du hast den Wagen noch einmal gesehen?«
Sie schaute mich an, als wäre es nicht wahr. »Was soll ich gesehen haben?«
»Den Wagen, in dem jemand entführt worden ist. Das hast du uns gesagt.«
Sie lachte kindlich auf und klatschte in die Hände. Jetzt war schon zu merken, daß sie geistig verwirrt war. Dann schaute sie an uns vorbei und murmelte, während ihr Gesicht wieder einen normalen Ausdruck annahm: »Ja, ich habe ihn gesehen.«
Uns fiel ein Stein vom Herzen, aber Grund zum Jubel war noch nicht vorhanden.
Die nächste Frage stellte ich automatisch. »Kannst du uns sagen, wo du ihn gesehen hast?«
»Bitte?«
Ich wiederholte die Worte.
Daraufhin verfiel Apfel-Anni in ein tiefes Grübeln, und sie runzelte auch die Stirn. »Nicht weit weg, glaube ich…«
»Pardon, aber damit können wir nichts anfangen. Versuche doch, dich zu erinnern. Wo hast du das Auto gesehen?«
»In der Nacht.«
»Es war also dunkel.«
»Ja, ich war unterwegs.« Sie strich über ihre kleine Nase. »Oder war es am Abend? Ich glaube, ja. Es wurde dunkel. Dann ging ich in eine Straße mit alten Häusern, und da kam er.«
»Woher? Fuhr er dir entgegen?«
»Nein, aus einer Einfahrt!«
»Aha.«
»Er kam da. Ich habe ihn gesehen.«
»Und wo fuhr er hin?«
»Weg von mir.«
Bill flüsterte mir zu: »Hoffentlich erinnert sie sich an die Straße. Das ist jetzt am wichtigsten.«
»Ja, drück uns die Daumen.« Ich beugte mich vor und schaute Anni an.
»Es ist wichtig, daß du dich an alles genau erinnerst. Du hast die Straße gesehen, das wissen wir jetzt. Aber du hast uns nicht den Namen der Straße genannt. Wie heißt sie?«
Apfel-Anni lachte. »Einen Namen? Soll ich einen Namen sagen? Soll ich es wirklich?«
»Das wäre toll.«
Sie lachte und gab die Antwort fast jubelnd. »Den weiß ich nicht. Den kenne ich nicht.«
Verdammt, das hatten wir uns gedacht. Damit hatten wir gerechnet.
Neben mir ballte Bill vor Wut beide Hände, aber wir konnten hier nicht ausflippen, sondern mußten trotz allem versuchen, Apfel-Anni so nahe wie möglich
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