094 - Der Teufel von Tidal Basin
nicht hin, oder höchstens dann, wenn ein Mord aufzuklären war.
Dr. Marford war einer der wenigen Leute, die tags und nachts die Gasse unangefochten passieren durften. Er hätte allerdings haarsträubende Dinge erzählen können, die er in dem engen Durchgang gesehen und gehört hatte. Aber er schwieg darüber.
»Ich glaube nicht, daß er diesen Weg benützt hat«, erwiderte Marford auf Masons Frage. »Aber wenn Sie einen Zweifel haben, will ich auf jeden Fall einmal selbst nachsehen.«
Wieder verging eine halbe Stunde, ohne daß eine Nachricht kam. Viertel vor zwei schickte Chefinspektor Mason alle Reserven aus, um nach dem Doktor zu suchen. Auf telefonischen Anruf kamen Polizeimotorboote, die die Wasserseite abpatrouillierten. Aber es war nichts von Rudd zu entdecken. Er war verschwunden, als ob ihn die Erde verschluckt hätte.
Diese Situation fand Mike Quigley vor, als er auf der Wache erschien. Er ging sofort zu Mason und erzählte ihm offen, was er von dem Ring wußte. Der Chefinspektor hörte ihm resigniert zu.
»Warum haben Sie mir das nun verheimlicht? Das konnten Sie doch wirklich gleich sagen. Daß der Mann Donald Bateman heißt, habe ich allerdings inzwischen auch selbst herausgebracht. Allmählich kommt schon etwas Licht in die Sache - hallo, Doktor!«
Es war Marford, der sich nach seinem Kollegen erkundigen wollte.
»Wir haben immer noch nichts gehört«, sagte Mason. »Wahrscheinlich hat er entdeckt, daß der Mörder ein Ire war, und ist mit dem Nachtdampfer nach Irland gefahren, um den Mann dort aufzutreiben. Nehmen Sie Platz und trinken Sie Kaffee mit uns.« Er schob ihm eine dampfende Tasse hin. »Mir ist es jetzt auch gleich, wohin er gegangen ist. Ich bin müde. Wenn nur wenigstens dieser Mr. Landor beizeiten nach Hause käme und die Wahrheit erzählen würde! Dann hätten wir am Morgen alle Fäden in der Hand. Aber wenn er seinen Paß und seine dreitausend Pfund in einem Privatflugzeug nach dem Kontinent geschafft hat, bleibt dieser Mord wohl unaufgeklärt. Dann können die Zeitungsreporter wieder ihre Federn wetzen.«
Dr. Marford trank seinen Kaffee aus und ging bald darauf wieder, denn die zweite Geburt war fällig.
Mason begleitete ihn zur Tür.
»Haben Sie sich noch weiter mit dem Fall beschäftigt?« fragte er.
»Ja. Und ich habe jetzt nicht nur eine Theorie, sondern eine feste Überzeugung. Ich kann den Beweis nicht erbringen, aber ich glaube, ich kann sagen, wer der Mörder ist.«
»Ich möchte nur wissen, ob Sie an dieselbe Person denken wie ich.«
Marford lächelte.
»Um seinetwillen hoffe ich das nicht.«
»Das heißt also, daß Sie uns das Resultat Ihrer Schlußfolgerungen nicht mitteilen wollen?«
»Ich bin Arzt und kein Detektiv.«
Mason kam ins Büro zurück und wärmte seine Hände am Kamin.
»Noch keine Nachricht von Bray oder Elk gekommen?«
Er schaute auf seine Uhr, die halb drei zeigte. Fast begann er daran zu zweifeln, daß Mr. Landor jemals in seine Wohnung zurückkehren würde.
Schließlich machte er sich in Quigleys Begleitung auf den Weg nach Gallows Alley. Es regnete nicht mehr, aber die Stärke des Windes hatte nicht abgenommen.
Der Eingang in die enge Gasse sah düster und abstoßend aus, und das kalte Licht einer einsamen Straßenlaterne verstärkte nur den unheimlichen Eindruck. Als die beiden weitergingen, hörten sie plötzlich die heisere Stimme einer Frau, die ein Spottlied auf die Polizei sang.
Mason hatte sich schon immer gewundert, wie gut diese Leute im Dunkeln sehen konnten.
»Sie sind wie die Ratten«, sagte Mike, der seine Gedanken erraten hatte.
Sie hörten wieder Kichern und höhnisches Lachen.
»Sie scheinen überhaupt nicht zu schlafen«, erwiderte Mason verzweifelt. »Es war zu meiner Zeit dasselbe. Man konnte tags oder nachts durch die Gasse gehen, man wurde immer von irgend jemand beobachtet.«
Plötzlich drehte er sich um und rief einen Namen. Eine verschwommene Gestalt löste sich aus dem Dunkel.
»Ich dachte mir doch, daß Sie es sind«, sagte Mason. »Wie geht es denn?«
»Schlecht, Mr. Mason, sehr schlecht«, erwiderte eine weinerliche Stimme.
»Haben Sie Dr. Rudd heute nacht gesehen?«
»Den Polizeidoktor? Nein, Mr. Mason, wir haben ihn nicht gesehen. Niemand kommt die Gasse entlang. Alle fürchten sich, die Leute hier aufzuwecken!«
Wieder Kichern und höhnisches Lachen.
Vor Nr. 9 machte Mason halt. Ein Mann lehnte mit dem Rücken an der Haustür und schnarchte. Er hatte eine alte Decke über seine Knie gelegt,
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