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0941 - Das unheile London

0941 - Das unheile London

Titel: 0941 - Das unheile London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adrian Doyle
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Gesicht. Der Mann hustete und wedelte mit der Hand. Zwei, drei Mitreisende lachten schadenfroh, aber die meisten zeigten sich empört und verlangten die sofortige Verhaftung des Rüpels.
    Finsborough schätzte die Zahl seiner Sympathisanten ab und musste einräumen, dass sie hoffnungslos in der Unterzahl waren. Zähneknirschend drückte er daraufhin die Zigarre auf dem Boden aus. Im Vorbeugen stieß er unbeabsichtigt - was sonst? - mit dem Kopf gegen das Genital des Schaffners. Dessen schmerzverzerrtes Gesicht entschädigte Finsborough für die gerade erlittene Beschneidung seiner Lebensqualität.
    »Sir, Sie…«
    Eine der Ladys auf den gepolsterten Bänken schrie auf.
    Finsborough, Besitzer einer Zulieferfirma der Metropolitan, glaubte zunächst, der Schrei beziehe sich auf sein raues Benehmen. Doch als immer mehr Fahrgäste einstimmten, Männer und Frauen, dämmerte ihm allmählich, dass ein sehr viel bedeutungsvollerer Vorfall der Auslöser war.
    Im Lampenlicht sah er, dass sich etwas draußen, jenseits der Waggonfenster, wo bislang nur Schwärze genistet hatte, zu verändern begann. Wie Schlieren lief etwas über das Glas. Als würde von irgendwoher flüssiges Pech herabregnen und sich wegen des Fahrtwindes über die Außenfläche verteilen.
    Doch dann klirrte es auch schon, und irgendetwas züngelte herein.
    Fäden, dachte Finsborough zuerst, zähe Fäden. Sie peitschten in der Zugluft und berührten wie zufällig mal diesen, mal jenen Passagier.
    Aber was immer sie berührten, ließen sie nicht mehr los - und sobald sie an einem Mann oder einer Frau anhafteten, schien der gerade noch hauchfeine Strang sich zu verdicken, wie ein Gummischlauch, durch den mit Hochdruck etwas gepresst wurde.
    Die Berührten schrien wie am Spieß - verstummten aber auch innerhalb von Sekunden und sanken schlaff in sich zusammen. Manch rosiges Gesicht wurde blitzschnell aschfahl, fast weiß.
    Finsborough war kein Zauderer, weder im Beruf noch privat. Er realisierte intuitiv, was um ihn herum vorging. Immer mehr Fenster zerbarsten, und die Scherben flogen als rasiermesserscharfe Geschosse durch den Innenraum des spartanisch eingerichteten Waggons.
    Schwerwiegender aber war Finsboroughs Erkenntnis, dass die Verdickung der Fäden wohl nur eines bedeuten konnte: Den Getroffenen wurde, nachdem sie von den Strängen regelrecht durchbohrt waren, der Lebenssaft abgezogen!
    Der Fabrikant schnappte sich den Schaffner, der völlig hilflos vor ihm am Boden kniete. »Tun Sie etwas, Sie Versager! Der Lokführer soll das Tempo erhöhen! Wir müssen an die Oberfläche - er darf um Gottes willen nicht bremsen! Wie weit ist es noch bis zur Station? Was stehen Sie hier noch herum?«
    Der Schaffner starrte wie paralysiert zu Finsborough auf. Die Menge der Befehle und Fragen überforderte ihn. »Ich…«
    Finsborough sah einen der tentakelartigen Stränge auf sich zu flattern und wusste, dass er nicht mehr würde ausweichen können. In seiner Not entschied er sich für das einzige noch machbare Rettungsmanöver: Er beförderte den Schaffner mit einem Tritt auf das wie eine überdimensionale gespaltene Schlangenzunge heraneilende Gebilde zu - das sich augenblicklich in den Unglücklichen verbiss .
    Die Augen des Schaffners traten aus den Höhlen hervor, aus seinem Mund wollte sich ein Schrei lösen, doch er erstickte in einem Gurgeln, als innere Verletzungen seine Kehle mit Blut füllten. Wenig später sank er bereits in sich zusammen, und die Fäden, die ihn durchbohrt hatten, verdickten sich und vollführten pumpende Bewegungen.
    Finsborough rechnete sich kaum eine Chance aus, aber er wollte auch nicht ohne Gegenwehr darauf warten, dass ihm das Gleiche widerfuhr wie bereits der Mehrzahl der Fahrgäste. Überall war Geschrei, versuchten die Passagiere, sich unter den Sitzbänken in Sicherheit zu bringen oder verschanzten sich hinter Mitreisenden, die bereits tot herumlagen.
    Aber die von draußen herein flatternden Stränge tasteten sich in jeden noch so verborgenen Winkel und fanden früher oder später jeden.
    Finsborough war bislang wie durch ein Wunder verschont geblieben.
    Es entsprach seiner Wesensart, dass er es nicht weiter hinterfragte, sondern einfach den größtmöglichen Nutzen aus dieser Fügung des Schicksals zu ziehen versuchte.
    Der Lokführer - er musste zu ihm. Es war nicht weit, aber je näher er dem Ende des Waggons und dem Übergang zur Lok kam, desto zweifelhafter wurde, dass Finsborough im Führerhaus noch jemanden antreffen

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