0948 - Leonoras Alptraumwelt
meine Kräfte auch ausschöpfen zu können. Bei mir war er voll angeschlagen.
»Siehst du sie, Sinclair? Siehst du sie noch immer?« rief Leonora.
Ich mußte schweigen.
Die Voodoo-Hexe freute sich. Sie hatte ihren Spaß, ihren großen Triumph, denn ihr Plan war aufgegangen, nicht meiner. »Du wirst zuschauen, wie sich deine Freundin selbst vernichtet. Sie wird sich umbringen, aber so einfach ist das nicht, denn mit einem Stich ins Herz ist es nicht getan. Sie braucht vielleicht fünf oder noch mehr, und sie wird jeden einzelnen regelrecht erleben, weil sie nicht anders kann und du es auch nicht anders willst. So habe ich es vorgesehen, und so wird es auch laufen.«
Ich schwieg. Ich lag in meinem verdammten Bett und unternahm einen letzten Anlauf, um die Barriere zu durchbrechen. Was ich da sah und was sich nur wenige Meilen entfernt in der Wirklichkeit abspielte, das hatte ich alles nicht gewollt. Es geschah wirklich gegen meinen Willen, aber es ließ sich nicht mehr aufhalten. Leonora hatte die Zeichen gesetzt, und Leonora verfügte über eine irrsinnige Macht in dieser neuen Welt oder Dimension, in die sich die Person zurückgezogen hatte.
Glenda runzelte die Stirn. Sie traute sich noch nicht, das Messer einzusetzen. Auch zeigte die Klinge nicht auf sie, sondern ins Leere. Und noch hielt sie den Griff nur mit einer Hand fest. Um sich den Stahl allerdings in den Körper stoßen zu können, würde sie unendlich viel Kraft und Willen aufbringen müssen.
Jetzt winkelte sie den linken Arm an, weil meine Phantasie es ihr so befahl.
Sehr deutlich spürte ich es, und meine Phantasie leitete sie auch weiter. Ihr Arm streckte sich, ihre Hand legte sich um den Griff.
Auch das schaffte sie dank mir.
Noch wies die Klinge in die andere Richtung, aber Glenda drehte es, weil meine Phantasie es so wollte. Ich - nein, nicht ich, sondern meine Phantasie würde letztendlich als ihr Mörder dastehen.
Das zu begreifen und damit zurechtzukommen, berührte die Grenzen des menschlichen Begreifens.
Was sollte ich tun? Was konnte ich tun, um sie doch noch von ihrem schrecklichen Tun abzuhalten?
Ich wußte es nicht. Ich lag in meinem Bett. Ich schaute in ein Gebilde hinein, das mir wie ein magisches Hollogramm vorkam, das die Voodoo-Frau aufgebaut hatte.
Ich hatte auch keine Handhabe und keine Waffen, um sie abzuhalten. Es war alles so schrecklich.
Selbst an das Kreuz kam ich nicht heran. Es lag auf meiner Brust und hatte allmählich meine Körpertemperatur angenommen, mehr auch nicht. Ich hätte es mir diesmal als Allheilmittel gewünscht, aber das funktionierte nicht. Das Kreuz blieb ruhig, und ich befand mich nicht in der Lage, es zu aktivieren.
Glenda stand direkt vor der Tat.
Als würde sie mich sehen, so hob sie noch einmal den Kopf und schaute mir geradewegs ins Gesicht. Auch da reagierte sie aufgrund meiner Vorstellungskraft.
Ihr Gesicht…
Die dunklen Augen, das Lächeln, ihre Stimme, ihre Blicke, die so herzlich weich sein konnten, aber oft genug das Gegenteil ausdrückten, wenn sie sich über mich geärgert hatte. All das würde ich bald nicht mehr sehen, dann war sie leichenstarr und tot.
Tot für immer.
Begraben!
In der alten Friedhofserde liegend.
Ich konnte nicht mal weinen, weil die echten Gefühle ebenfalls von meiner schrecklichen Phantasie begraben worden waren. Sie würde sterben, und niemand konnte sie noch retten.
Da war wieder die Stimme. »Deine Phantasie wird sie umbringen, Sinclair. Das erste Opfer! Weitere werden folgen. Durch dich und auch durch deinen Freund…«
An Suko hatte ich nicht mehr gedacht. Auch jetzt war er relativ gleichgültig.
Es gab nur das von meiner Phantasie geschaffene Grauen.
»Jetzt wird sie sich töten, Sinclair…«
Und genau da riß mich ein brutaler Klang aus meiner Lethargie. Im selben Augenblick brach das Phantasiebild mit Glenda Perkins zusammen. Ich war wieder allein…
***
Alles war verschwunden. Alles war weg. Ein Traum, den ich hinter mich gebracht hatte. So zumindest sah es im ersten Augenblick aus, aber ich wußte, daß es kein Traum gewesen war. Etwas in meinem Hinterkopf »sprach« davon.
Wieder meldete sich die Klingel mit ihrem altmodischen Schrillen. Wenig später betraten die beiden Besucher die Wohnung. Ich vernahm ihre Stimmen.
»John?« Eine Frau rief meinen Namen. Es dauerte Sekunden, bis ich Shaos Stimme erkannt hatte.
In den Räumen wurde das Licht eingeschaltet, und ich lag noch immer im Bett.
Dann erschien Shao auf der Türschwelle
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