0951 - Die Exorzistin
Für einen kurzen Augenblick blieb sie stehen und deutete auf eines der Fenster. »Es wird gleich dämmern«, erklärte sie. »Danach folgt die Dunkelheit, und wenn sie erscheint, werden Menschen wie wir besonders wachsam sein müssen.«
»Auch Angelina?«
»Sie erst recht. Denn in der Dunkelheit kehren ihre wundersamen Kräfte zurück. Erst dann kann sie richtig aktiv werden, aber das werden sie ja in einer etwas anderen Form kennen«, fügte sie lächelnd hinzu und machte uns damit weder glücklicher noch schlauer, denn wir wußten nicht, was sich hinter diesen geheimnisvollen Andeutungen verbarg.
Diese Frau wußte mehr, als sie zugab. Ich konnte mir sogar vorstellen, daß sie uns bereits durchschaut hatte und uns die Freunde des toten Walt nicht mehr abnahm.
Wir blieben ihr auf den Fersen und schritten nach einigen Metern in einen kleinen Flur, der im rechten Winkel links dieses Hauptgangs abzweigte.
Der Flur war nicht lang. Er endete vor einer Tür, die Martha öffnete. Wir sahen das dunkle Gestein einer Treppe, die sehr bald deutlicher hervortrat, weil die Oberin das Licht eingeschaltet hatte. Der Treppe schloß sich eine kleine Diele an, an deren Querwand sich eine Tür befand.
Die Oberin war stehengeblieben. Sie drehte sich jetzt um und erklärte: »Hier sind wir richtig.«
Ich deutete auf die Tür. »Wen finden wir dahinter? Angelina?«
»Ja.«
»Dann öffnen Sie bitte.«
Sie hob die rechte Hand und drehte uns die Fläche zu. »Noch nicht«, erklärter sie, »und Sie sollten auch wissen, daß ich Sie nicht zu ihr hineinlasse. Sie braucht jetzt Ruhe, denn die Nacht ist wichtig. Ich will nur erfahren, ob Angelina Sie kennt oder erkennt. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Was ist, wenn sie es bejaht?«
»Dann werden wir uns etwas einfallen lassen müssen. Ein Kloster bietet meist genug Sicherheit. Man kann es auch als ein sehr gutes Versteck ansehen.«
»Oder als großes Grab, nicht?« fragte Suko.
»Das sagten Sie. Wir fühlen uns hier wohl. Noch einmal, unternehmen Sie nichts auf eigene Faust; was sie möglicherweise später bereuen könnten. Halten Sie sich an meine Anweisungen.«
Himmel, die Frau machte es spannend, aber sie lag dabei auch nicht so falsch, denn ich spürte ebenfalls die Spannung in mir hochsteigen, und sicherlich erging es Suko ähnlich.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, daß die Oberin einen Schlüssel aus der Tasche hervorziehen und aufschließen würde. Das brauchte sie nicht, denn als sie ihren rechten Arm anhob und auf die Tür zubewegte, sahen wir eine ähnliche Klappe wie bei der Eingangstür. Nur konnte sie hier von außen geöffnet werden, wenn erst einmal die beiden Holzriegel an den Seiten gelöst worden waren.
Das tat sie mit zwei schnellen Bewegungen. Dann faßte sie nach dem vorstehenden Rand an der rechten Seite der Klappe und zerrte das kleine Rechteck zur Seite.
»Bitte«, sagte sie und trat aus dem Weg.
Das Fenster war breit genug für uns beide. Wir passierten die Oberin, die mit unbewegtem Gesicht dastand, und traten näher an das kleine Fenster heran.
Es gefiel mir nicht, sie in meinem Rücken zu wissen. Ich nahm mir deshalb vor, auf verräterische Geräusche zu achten. Dieser Frau traute ich mittlerweile alles zu, Zugleich schauten wir durch das Gitter.
Und zugleich sahen wir Angelina!
***
Zwar hielten wir nicht gerade den Atem an, aber wir holten nur flach Luft, denn mit diesem Bild hatten wir nicht gerechnet und waren schon überrascht.
Angelina wandte uns den Rücken zu. Sie saß nicht in einem normalen kleinen Zimmer, sondern in einem noch engeren Raum, der schon einer Zelle glich, allerdings einer ohne Gitterfenster.
Wer immer sich hier aufhielt, der schaute auf die grau gestrichenen Wände und konnte dabei schwermütig werden, wenn er zu lange in dieser Zelle hockte.
Wie erwähnt, von Angelina sahen wir nur den Rücken und auch das Kleidungsstück, in das sie sich regelrecht eingepackt hatte. Sie hockte auf einem Hocker und hielt den langen, schwarzen Mantel eng um ihren Körper gewickelt. Ihn kannten wir von Marions Beschreibungen. Auch die schwarzen Haare stimmten, die lang an ihrem Hinterkopf herabhingen und dabei die Schultern berührten.
Angelina war eine schmale, selbst aus unserem Sichtbereich zerbrechlich anmutende Gestalt, und sie war sehr in sich versunken, was schon einer Trance glich.
Das einzige Sitzmöbel war ein Hocker. An den Wänden hingen dunkle Kreuze in verschiedenen Größen.
Angelina litt.
Sie war nicht stumm.
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