0951 - Die Exorzistin
nicht, wie ich seinen Blicken entnehmen konnte. Aber was wußten wir schon über gewisse Dinge, die sich fern unserer Beobachtung abgespielt hatten?
Deshalb mußten wir abwarten, und das brauchten wir nicht mehr lange, denn die Oberin trat zurück und drehte sich zugleich um. Sie sprach uns noch in der Bewegung an. »Angelina ist bereit.«
»Gut.«
Als wir gingen, breitete sie die Arme aus und stand noch immer vor uns. »Eines will ich Ihnen sagen. Vergessen Sie nie, wo Sie sich befinden. Dies hier ist ein Kloster, ein Ort der Stille, des Gebets. Es ist keine Lasterhöhle, wie sie Ihnen ja besser bekannt sein dürfte.«
»Keine Sorge«, sagte ich, »wir werden es nicht vergessen. Schließlich haben wir uns auch hergetraut.«
»Was mich im nachhinein wundert.«
Sie kriegte von uns keine Antwort mehr. Wir warteten darauf, daß sie Platz machte, was sie auch tat.
So hatten wir freie Bahn und traten abermals an die Luke heran.
Noch immer saß Angelina auf ihrem Hocker, aber die Haltung hatte sich verändert. Sie war um neunzig Grad nach links geschwenkt, wir hätten schon ihr Profil sehen müssen, wegen der darüber hinwegfließenden Haare war das allerdings unmöglich.
Sie spürte, daß jemand in der Nähe war. Wir hörten sie atmen. Nicht normal, sondern heftig und stoßweise, wie bei einem Menschen, der unter einem schweren seelischen Druck leidet.
Mir lag es auf der Zunge, ihren Namen zu flüstern, aber ich hielt mich zurück und wartete auf ihre Reaktion. Ihre blassen Hände mit den langen Fingern hielten den Stoff des Mantels zusammen wie einen Umhang. Aus dem heftigen Atmen war ein Stöhnen geworden, das wie ein Signal wirkte.
Plötzlich vollendete sie ihre Drehung auf dem Hocker.
Sie schaute uns an.
Wir starrten zurück.
Und wir stöhnten beide leise auf, denn ihr Gesicht, ein schönes Gesicht, schwamm in Blut…
***
Das war genau dieser kalte Horror, der einen Menschen immer dann erwischt, wenn er am wenigsten damit rechnet. Uns erging es so, denn nie hätten wir daran gedacht, bei einer Person in ein blutendes Gesicht zu sehen. Ich kam mir vor, als hätte ich kaltes, aber weiches Metall geschluckt, das durch meine Kehle rann und sich im Magen ausbreitete.
Schwarze Haare, dunkle, unruhige Augen, aber ein blutiges Gesicht, denn dieses Blut war aus den Poren oder Hautfalten hervorgequollen. Es mußte einfach so sein, denn irgendwelche Schnittwunden konnten wir nicht erkennen.
Mir kamen die Geschichten von Menschen und Figuren in den Sinn, die plötzlich und anscheinend grundlos anfingen zu bluten. Gerade in der letzten Zeit hatte ich viel darüber gelesen, und ich wußte auch, daß das meiste davon aus Scharlatanerie und irgendwelchen Tricks bestand. Bei Angelina wollte ich daran nicht glauben. Sie blutete aus Überzeugung, als müßte sie das Leiden zahlreicher Menschen am eigenen Leibe erfahren.
Die unterschiedlich großen Tropfen verteilten sich auf der Stirn, den Wangen, der Nase, benetzten die Lippen und klebten am Kinn. Manche sahen aus wie Perlen, andere waren verschmiert, als hätte die junge Frau darübergewischt.
Und jung war sie. Ich schätzte sie auf höchstens fünfundzwanzig, doch in ihren Augen lag etwas, das mich schaudern ließ. Ich wußte nicht, was es war, vielleicht die Erinnerung an das, was sie erlitten hatte, aber auch ein ungewöhnliches Wissen, mit dem sie nur allein zurechtkam. Sie wußte viel, aber sie hatte darunter schwer zu leiden.
Diese Frau durchlebte eine gewaltige Krise. Sie wurde hin- und hergeschüttelt. Sie wußte nicht genau, zu welcher Seite sie sich zählen sollte. Der Oberin nach zu urteilen, stand sie auf der Seite des Guten, des Lichts, aber sie kannte auch die andere Welt. Um das Licht zu erlangen, muß man zuerst die tiefen Täler der Schatten durchwandern, was diese Person meiner Ansicht nach getan hatte.
Ich wußte so gut wie nichts über sie. Es war mir auch nicht bekannt, was man ihr angetan hatte, aber es mußte schlimm gewesen sein, sonst hätte sich Angelina bestimmt nicht zu einer derartigen Rachetour verleiten lassen.
Sie ließ mich nicht aus den Augen. Dunkle Teiche bildeten die Pupillen, doch in deren Mitte sah ich die hellen Punkte, und ich stellte fest, daß sie die Lippen bewegte, wobei sie es nicht schaffte, auch nur ein Wort zu sagen.
Wir hatten uns nur sehr kurze Zeit angeschaut, obwohl sie mir persönlich lang vorgekommen war.
Dann bewegte Angelina die Augen und konzentrierte sich auf Suko.
Auch er wich dem Blick nicht aus.
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