0953 - Der Fluch von Eden
Kirche, allen voran der Erzbischof, warf ihnen keine Knüppel zwischen die Beine. Oft hatten Nele und Nikolaus sogar den Eindruck, dass Lebensmittel- und Kleiderspenden, die ihnen für die bevorstehende Reise überlassen wurden, nicht immer nur aus der normalen Bevölkerung kamen, sondern auch von der Kirche, die die Zeit bis zu ihrem Aufbruch damit verkürzte.
Noch im selben Sommer verließ die Schar Köln, und eine Theorie von Nele lautete: Die Stadtoberen waren froh über Nikolaus' Initiative und unterstützten ihn deshalb. Denn inzwischen hatten sich neben Waisenkindern auch zahlreiches lichtscheue Gesindel sowie Spiel- und Fahrensleute, der Gruppe angeschlossen - alles Personen, die eine Stadt gar nicht so ungern aus ihren Mauern verschwunden wusste.
Nikolaus führte seine Anhänger aus der Stadt heraus. Die Straßen waren gesäumt von Schaulustigen, von denen viele das Unternehmen zu befürworten schienen, aber es gab auch Stimmen, die Nikolaus ein Werkzeug des Teufels schimpften. Es stellte sich heraus, dass nicht nur Waisen dem Ruf des charismatischen Jünglings gefolgt waren, und so spielten sich Tags darauf, als das »Heer« sich vor Köln endgültig zum Aufbruch gen Süden sammelte, herzzerreißende Szenen ab, in denen Mütter ihre Sprösslinge unter Tränen anflehten, mit ihnen nach Hause zurückzukehren. Manche konnten überredet werden, aber nur, um sich am nächsten Tag, pünktlich zum Start, wieder unter die Kreuzfahrer gemischt zu haben.
Nele beobachtete die Entwicklung mit Sorge, sprach auch viel mit Nikolaus darüber. Aber was seine Bestimmung anging, war er durch nichts und niemanden ins Wanken zu bringen.
Und so zogen sie los, rheinabwärts. Es waren geschätzte fünftausend, und auch während des Zugs durch die Lande kamen noch täglich neue Anhänger dazu.
Ein unglaublicher, Fahnen schwenkender Tross hatte sich in Bewegung gesetzt, der wie eine talwärts gehende Lawine immer mehr an Substanz gewann, und nach einiger Zeit wusste auch Nele nicht mehr, was sie noch hätte aufhalten sollen.
Nikolaus hatte in seiner Vision gesehen, wie sich das Mittelmeer vor ihnen zurückziehen und ihnen, wie einst Moses, erlauben würde, es trockenen Fußes zu durchqueren.
Aber noch lange bevor das Meer in Sicht kam, waren erste Opfer zu beklagen, starben die ersten Soldaten des Lichts.
***
Der Marsch über den Brenner, um die Alpen zu überwinden, wurde zu einem Fiasko. Nele, Julius und Nikolaus mussten ohnmächtig mit ansehen, wie Dutzende ihrer Mitstreiter auf der Strecke blieben. Die Anstrengungen waren zu groß, und obwohl Ende Juli Sommer herrschte, war es hier oben in der Gebirgsregion vor allem nachts bitterkalt. Zu unterschiedlich ausstaffiert waren die Kreuzfahrer auch für ein Unterfangen wie dieses, das zeigte sich jetzt auf brutale Weise. Manche Kinder trugen kaum mehr als ein paar Leinenhosen und ein Hemd, dazu dünnes Lederschuhwerk. Auf die Oberteile hatten sie Kreuze genäht - doch die schützten sie auch nicht gegen den grimmigen Frost, und so zierten bald andere Kreuze, solche aus simplen Ästen geformt, die Route der vieltausendköpfigen Schar, die in der Mehrzahl immer noch wild entschlossen an dem von Nikolaus gerufenen Vorhaben festhielt. Trotzdem waren alle schockiert ob der Opfer, die der Brenner kostete, und manch einer kehrte nun um, weil ihn die Courage verließ.
Nikolaus stellte es jedem frei, weiterzugehen oder aufzugeben. Er verurteilte niemanden, hielt keine Hetzreden, sondern unterstützte im Gegenteil diejenigen, denen es an Entschlossenheit mangelte, den Weg nach Jerusalem zu bewältigen.
Diejenigen, die umkehrten, wurden von den anderen mit den besten Wünschen verabschiedet - und ebenso gaben die Umkehrer den Weiterziehenden ihre besten Wünsche mit.
Julius hielt sich bei alldem tapfer - viel wackerer, als Nele befürchtet hatte. Er marschierte beständig mit ihnen an der Spitze, gab oft sogar das Tempo vor, was Nikolaus zu amüsieren schien.
Die großartige Gebirgslandschaft hinterließ nicht nur schlechte Eindrücke - noch nie zuvor hatten sich die Kreuzfahrer dem Himmlischen Reich Gottes näher gefühlt. Sie sogen die Erhabenheit der wildromantischen Gegend in sich auf, schöpften daraus neuen Mut und neue Kraft. Als dann noch eine größere Ortschaft in Sicht kam, gekrönt von einer Abtei, wussten sie sich auf dem richtigen Weg, zumal sie von den Menschen dort erfuhren, dass sie den schlimmsten Teil der Alpenüberquerung geschafft hatten. Von nun an ging es
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