0959 - Der Fallbeil-Mann
Lampe wieder aus, richtete mich auf - und hörte plötzlich aus dem Dunkeln die flüsternde Stimme.
***
»Was machen Sie hier?«
Ich gab keine Antwort, sondern blieb einfach nur stehen. Die Stimme hatte einer Frau gehört. Wie sich diese Person so leise angeschlichen hatte, wußte ich nicht. Wahrscheinlich hatte sie bereits im Schatten der Innenwand gelauert, zwischen den schmalen Fenstern, wo die Dunkelheit am dichtesten war.
»Ich warte auf eine Antwort, Fremder!«
Fremder, hatte sie gesagt. Ich mußte lächeln. Es hatte sich angehört, wie in einem Western, wenn der eine Mann zum anderen Stranger sagte. »Ja, die bekommen Sie!«
»Das hoffe ich.«
Langsam drehte ich mich nach links. Ich wollte die Person sehen und nahm sie eher wahr wie ein dunkles Gespenst, das sich kaum von seiner Umgebung abhob. Nur dort, wo sich das Gesicht befand, entdeckte ich eine bleiche Fläche, ansonsten nichts, da die Frau, in schwarze Kleidung gehüllt war.
»Ich kann Ihnen sagen, was ich hier wollte, Schwester Anna.« Kaum hatte ich den Namen erwähnt, zuckte sie zusammen, gab aber keinen Kommentar ab, sondern ließ mich weitersprechen. »Ich wollte diejenige Person besuchen, die vom Fallbeil-Mann geköpft worden ist. Können Sie das verstehen, Oberin?«
Sie ging auf meine Frage nicht ein, sondern wollte wissen, woher ich ihren Namen kannte.
»Nun ja, ich war im Schloß.«
»Als Gast des Lords?«
»So ist es.«
»Und weiter?«
»Ich habe den Fallbeil-Mann erlebt. Wir saßen in der Halle, als der Kopf Ihrer Schwester durch den Kamin nach unten fiel und in der Feuerstelle liegenblieb. Ich habe auch gesehen, wie der Körper vom Dach rutschte, und ich habe mich anschließend versteckt und zugeschaut, wie Sie den Körper und den Kopf abgeholt haben. So, jetzt wissen Sie alles.«
»Vielleicht.«
Ich hob die Schultern und deutete auf die Tote. »Es ist nicht die erste, die Sie geholt haben.«
»Sie wissen viel, Mister.«
»Mein Name ist übrigens John Sinclair. Ich komme aus London.«
»Sind Sie mit dem Lord irgendwie verwandt oder verschwägert?«
»Nein, das nicht, aber er hat mich eingeladen, einige Tage und Nächte bei ihm zu verbringen.«
Die Oberin begriff es nicht. »Warum tat er das? Ich kenne ihn als ziemlich verschroben und menschenscheu. Ein Whiskyfreund.«
»Ihm scheint der Henker auf den Magen geschlagen zu sein. Er wollte sich nicht mehr mit ihm abfinden. Er wollte, daß dieses Morden aufhört. Deshalb bin ich geholt worden.«
»Und Sie kennen sich aus?«
»Im Prinzip schon, Oberin. Ich bin jemand, der sich um ungewöhnliche Fälle kümmert.«
»Ein Geistersucher, ein Scharlatan?«
»Das letzte weniger, Oberin.«
Sie kam näher. Anscheinend hatte ich einen Teil ihres Vertrauens zurückgewonnen. »Darf ich Sie fragen, was Sie hier im Kloster sonst noch suchen?«
»Dürfen Sie. Und Sie kriegen auch eine Antwort. Es muß einen Zusammenhang zwischen dem Fallbeil-Mann und Ihrem Kloster geben, Schwester. Ich bin davon überzeugt, aber ich suche noch die Grundstrukturen. Warum nimmt sich dieser Henker ausgerechnet Nonnen vor, die doch wahrhaftig nichts Böses tun.«
»Da muß ich Ihnen recht geben, Mr. Sinclair, wir haben nichts Böses getan.«
»Aber Sie sollen trotzdem sterben.«
»Ja.«
»Haben Sie darüber nachgedacht?«
Sie kam noch näher, und ich konnte ihren leicht säuerlichen Schweißgeruch wahrnehmen. »Ich habe darüber nachgedacht - und meine Mitschwestern auch.«
»Gab es auch ein Ergebnis?«
»Das werden Sie nicht verstehen können.«
»Versuchen Sie es trotzdem.«
»Es ist das Schicksal. Der Allmächtige hat uns diese schwere Prüfung auferlegt, und wir werden sie durchstehen.«
»Sehr schön«, erwiderte ich spöttisch. »Sie werden sie so lange durchstehen, bis keiner mehr von ihnen da ist und jede Nonne ihren Kopf verloren hat. Ist das der Sinn dieser Prüfungen?«
»Wir wissen es nicht.«
Da sie mich anschaute, konnte sie auch sehen, daß ich den Kopf schüttelte.
»Ob Sie nun eine Nonne sind oder nicht, Schwester Anna, ich glaube, daß Sie mehr wissen, als sie zugeben sollen. Nichts geschieht grundlos. Auch der Henker erschien nicht ohne Grund, und ich denke, daß Sie diese Gründe sehr gut kennen, sie nur nicht nennen wollen, da sie auf ihr Kloster sicherlich kein gutes Licht werfen. Das ist meine Meinung. Dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Wenn Sie allein weitermachen und sich nicht helfen lassen wollen, wird es für Sie nur eine sehr dunkle Zukunft geben, in der der
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