0959 - Der Fallbeil-Mann
Tod regiert, nicht das Leben.«
Die Oberin schaute mich an und verengte dabei ihre Augen. »Wie können Sie nur so reden?«
»Aus Erfahrung. Ich weiß, daß es Flüche gibt, die in der Vergangenheit ihren Ursprung haben, und ich gehe davon aus, daß wir es hier mit einem derartigen Fluch zu tun haben.«
»Wer hat Ihnen das gesagt, Mr. Sinclair?«
»Ich weiß es.«
Sie lachte mir scharf ins Gesicht. »Oder meinen Sie den Lord, der zuviel Whisky trinkt?«
»Ob er das tut oder nicht, bleibt ihm überlassen. Alle seine Gehirnzellen hat der Alkohol wohl noch nicht zerstören können, denn er hat nachgedacht und das einzig Richtige getan.«
»Sie geholt, wie?«
»Ja.«
Die Oberin schüttelte den Kopf. »Was dieser Lord macht, geht uns nichts an. Wir leben alle unser eigenes Leben, und ich möchte, daß Sie uns nicht länger stören.«
»Sprechen Sie von einem eigenen Leben?« hakte ich nach.
»Ja.«
»Das ist verwirkt, wenn Sie so weitermachen. Sie wissen über den Henker Bescheid. Sie haben drei Schwestern verloren, und Sie wissen nicht, wie Sie das Grauen stoppen sollen. Es wird kommen, immer und immer wieder, und es wird sein Plan bis zum bitteren und tödlichen Ende durchführen. Das sollte Ihnen bewußt sein.«
Der Mund der Oberin verzog sich, als sie sprach. »Nichts«, flüsterte sie, »Sie wissen nichts. Verlassen Sie diese Kapelle, damit wir die Totenwache für unsere Schwester halten können. Wir brauchen Sie nicht, denn mit unserem Schicksal werden wir allein fertig.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur so verbohrt sein! Das begreife ich nicht.«
»Gehen Sie!«
Ihre Stimme hatte schrill geklungen, als wäre die Oberin dabei, sich in eine Furie zu verwandeln. In der Tat lagen ihre Nerven bloß. Ich wußte, woran es lag. Ich hatte die Wahrheit gesprochen, das war ihr klar, aber sie konnte einfach nicht über ihren eigenen Schatten springen, um mit mir zusammen zu arbeiten.
Bevor ich noch etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür der kleinen Kirche. Automatisch drehte ich den Kopf und sah, daß sie weit aufgestoßen wurde.
Die Nonnen betraten die Kapelle. Sie drängten sich durch die Öffnung, um anschließend eine Reihe zu bilden. Auch sie bewegten sich wie dunkle Gespenster, aber sie hielten die hellen Totenkerzen in den Händen, deren Licht später der Seele ihre verstorbene Schwester heimleuchten sollte.
»Merken Sie noch immer nicht, daß Sie stören?« zischelte mir die Oberin zu.
Ich deutete auf die Tür. »Wie viele Schwestern haben die Kapelle betreten?«
»Sechzehn sind es.«
»Gut. Es waren mal mehr. Möchten Sie, daß alle sechzehn den Weg gehen wie diese Frau hier im Sarg? Daß sie geköpft werden? Daß sie einem alten Fluch aus der Vergangenheit nichts mehr entgegensetzen können? Wollen Sie das auf Ihr Gewissen laden? Sie können es bestätigen, Sie können aber auch mit mir zusammenarbeiten. Das ist mein Vorschlag, den Sie sich überlegen sollten.«
Ich hatte laut gesprochen, daß die ankommenden Nonnen jedes Wort verstanden hatten. Sie waren im Mittelgang und zwischen den Sitzreihen der Bänke stehengeblieben, schauten nach vorn und sahen uns, die wir jetzt nichts sagten.
Schwester Anna schüttelte den Kopf. »Wer sind Sie überhaupt, daß Sie sich so etwas anmaßen?«
»Ich habe Ihnen meinen Namen bereits gesagt.«
»Den ich nicht kenne.«
»Sie sollten trotzdem Vertrauen zu einem Menschen haben, der Ihnen helfen möchte.« Ich sprach nicht mehr weiter, sondern ließ sie dabei zuschauen, wie ich mein Kreuz hervorholte. Leider war es zu dunkel, so daß sie es nicht sofort erkennen konnte.
»Was haben Sie da?«
Ich nahm die kleine Leuchte in die andere Hand und strahlte das Kreuz an, dessen Silber einen hellen Glanz abgab, der die Oberin zurückzucken ließ.
»Sie haben es gesehen?«
»Ein Kreuz«, flüsterte sie.
»Eben, Oberin. Das sollten Sie bedenken, wenn Sie mit mir reden. Ein Kreuz, und ich lebe im Zeichen des Kreuzes. Es ist ein sehr wertvoller Talisman, ein uralter, und in seinem Schutz bin ich den Mächten des Bösen auf der Spur. Ich will Sie in Ihrer Totenfeier nicht stören, Oberin, aber ich verspreche Ihnen, daß ich wiederkomme. Mag es Ihnen auch egal sein, ob noch mehr Schwestern aus Ihren Reihen sterben, mir aber ist es nicht egal. Für mich ist ein Menschenleben das höchste Gut, und daran sollten auch Sie sich wieder erinnern.«
Bisher hatte Schwester Anna stets eine Gegenantwort parat gehabt. Die blieb jetzt aus. Sie schwieg, und sie
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