0983 - Die Schamanin
sie waren, denn ändern konnte sie nichts.
Im Flur hinter der Haustür war es ziemlich dunkel. Das gefiel Sheila nicht, so dimmte sie das Licht heller, drehte sich noch und konzentrierte sich auf den an der Wand hängenden Spiegel.
Sie sah sich selbst. Ihr Bild zeichnete sich deutlich ab. Nichts war anders geworden, bis auf die nassen Stellen auf ihrem Gesicht. Schweißtropfen.
Sheila hörte sich selbst stöhnen. Sie trat näher an den Spiegel heran.
Nicht nur, um sich zu betrachten und zu kontrollieren. In ihr war auch die Hoffnung aufgekeimt, diesen Unsichtbaren zu entdecken, der sie berührt hatte. Vielleicht zeichnete er sich im Spiegel ab. Nicht unbedingt die Hände, sondern etwas anderes von ihm. Ein Schatten, ein Umriß, es war ja alles möglich.
Nein, da war nichts.
Nur ihre Gestalt zeichnete sich auf der Fläche ab. Und das war völlig normal.
Sie schluckte den Speichel, der bitter schmeckte. Auf ihrem Rücken spürte sie eine ungewöhnliche Kälte. Bedingt durch das Wissen, daß es weitergehen würde. Sie glaubte nicht daran, daß dieses Phänomen Schluß gemacht hatte. Es hatte sich zurückgezogen, konnte aber jeden Augenblick wieder erscheinen.
Der dunkle Pullover, die beige Hose.
Nichts hatte sich verändert!
Und doch kam sich Sheila völlig anders vor. Sie war so blaß geworden.
Zugleich verkrampft, denn die Lippen lagen dicht aufeinander. Zögernd nur hob sie die Arme an. Die Hände hielt sie gespreizt, die Fingerkuppen berührten zuerst den Stoff an der Außenseite. Da der Pullover ein wenig locker saß, drückte sie ihn gegen die Haut, und sie wartete darauf, daß etwas passierte.
Nein, es passierte nichts, und sie fühlte auch nichts. Es blieb alles so, wie es war.
Tief atmete sie durch. Im Magen tobten kleine Nägel. Sie bissen sich förmlich hinein, und wieder durchlief ein Hitzeschauer die Frau, während sie zugleich auf der Haut die Kälte mitbekam.
»Ich will mich nicht verrückt machen lassen!« flüsterte sie sich selbst zu.
»Ich muß die Nerven behalten.« Es war für sie leichter gesagt, als getan, denn auch die Stille im Haus ging ihr auf die Nerven.
Sie war eine Belastung. Sheila wünschte sich, nicht mehr allein zu sein, zumindest hätte sie jetzt gern Musik gehört, aber das alles blieb ein Wunschtraum, und auch John Sinclair ließ sich Zeit.
Sie hatte vorgehabt, den Pullover in die Höhe zu ziehen, um ihre Brüste zu betrachten, aber sie konnte es nicht.
Noch nicht.
Wie ein kleines Mädchen, dachte Sheila. Verdammt noch mal, du benimmst dich wie ein kleines Mädchen! Wieder schluckte sie. Ihr Speichel schmeckte bitter, nach Furcht. Noch immer grübelte sie darüber nach, daß kein Gegner, kein Fremder zu sehen gewesen war, und trotzdem blieb das Gefühl, nicht allein zu sein. Da lauerte etwas. Im Hintergrund, nicht sichtbar - irgendwo…
Ich muß es tun! Ich muß es tun!
Sie tat es!
Es kam schon einer wilden Bewegung gleich, mit der Sheila ihren Pullover in die Höhe riß. Hoch bis zum Kinn hoch, und sie hielt den Stoff fest. Ihre Augen waren groß geworden. Starre, kleine Teiche. Sie sah, sie erkannte alles, und sie sah zugleich nichts.
Da waren keine Hände zu sehen, die sie belästigten. Sheila betrachtete ihre Brüste, und sie sah auch die Sommersprossen darüber. Dann glitt ihr Blick tiefer, hin zum Bauch.
Sie wollte immer abnehmen und ärgerte sich über das Pfund zuviel, das sie angeblich mit sich herumschleppte.
Sekundenlang stand Sheila mit nach oben gezogenem Pullover vor dem Wandspiegel. Sie glich dabei einer Person, die darauf wartete, daß etwas geschah, aber die andere Kraft war wohl im Moment zumindest nicht mehr vorhanden.
Sheila atmete aus. So tief und fest, daß der Spiegel an einer bestimmten Stelle beschlug. Sie ließ den Pullover wieder los, und das Kleidungsstück ruschte nach unten. Kaum hatte es seine alte Lage wieder eingenommen, ging Sheila mit einem torkelnden Schritt nach rechts und war froh, sich an der Wand abstützen zu können.
Sie wollte einfach nicht glauben, daß sie sich die Berührung eingebildet hatte. Auch einen Wachtraum hatte sie nicht erlebt. Da mußte mehr dahinter stecken.
Obwohl der Flur nicht klein war, kam er ihr plötzlich eng vor. Da glich er schon einem Gefängnis, dessen Mauern immer mehr zusammenwuchsen.
Sheila wollte einfach weg. Sie fühlte sich unwohl, und sie drehte sich um.
Zu den Liebhabern starker Getränke gehörte sie nicht. Jetzt aber brauchte sie etwas Scharfes, einen Drink. Einen Whisky, Gin
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