0984 - Griff aus dem Dunkel
Sie öffnete die Augen nicht, nur zuckte plötzlich ihr Gesicht. Wenn Bill sich nicht zu sehr täuschte, lag zum erstenmal ein Lächeln um den maskenhaft wirkenden Mund, und das bedeutete für den Reporter nichts Gutes.
Sein Speichel schmeckte bitter. Vom Magen her stieg die Säure hoch. Er fühlte sich wie in einer verdammten Klemme steckend. Man spielte mit ihm, ohne daß er in dieses Spiel hätte eingreifen können. Alles war so fremd geworden, und er konnte nichts anderes tun, als auf Distanz zu gehen und zu hoffen, daß sich die Andeutungen der Schamanin nicht bewahrheiteten.
Das Lächeln blieb.
Ein ungutes Zeichen für Bill.
Dann zuckten die Lippen. Die trotz der Veränderung noch so starr ausgesehen hatten. Sie lagen auch nicht mehr aufeinander. Der Mund öffnete sich leicht.
Das hat etwas zu bedeuten! schoß es Bill durch den Kopf. Imelda muß eine Veränderung des Astralleibs erlebt haben. Und die war so stark, daß sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte halten können. Etwas anderes kam für ihn nicht infrage.
Würde sie reden?
Nein, sie gab zwar etwas von sich, aber es war zunächst nur ein leises Kichern. Vielleicht aus Schadenfreude?
Schadenfreude…
Bill konnte mit diesem Begriff nichts anfangen. Er paßte ihm nicht, nicht in einer Situation wie dieser. Imelda gab wieder, war ihr Astralleib erlebte. Imelda konnte sich darüber freuen, aber Bill glaubte nicht, daß er in der Lage war, dieses Gefühl mit ihr zu teilen.
Er wäre am liebsten in die Höhe gesprungen, um herumzulaufen. Er mußte sich einfach abreagieren, aber das wäre mit Sicherheit falsch gewesen, und so blieb er hocken, Imelda nicht aus den Augen lassend.
Der nackte Körper der Frau interessierte ihn nicht. Für ihn zählte einzig und allein das glatte Gesicht.
Und natürlich das Lächeln, das jetzt widerlich und kalt ihre Lippen kerbte.
Ihm fiel auf, daß die Augen jetzt wieder normal geöffnet waren. In ihrer Lage schaute sie zur Decke, als gäbe es dort etwas ganz Besonderes zu sehen.
Bill wußte nicht, was er tun sollte. Sie anfassen, sie ansprechen?
Heraus aus ihrer Trance holen?
Es wäre möglich gewesen, aber er mußte auch an Johnny denken und daran, daß ihm unter Umständen etwas passierte, wenn er die Frau aus ihrem Zustand löste.
Noch lächelte sie so verdammt falsch. Wie eine Puppe, die von ihrem Schnitzer einen bösen Gesichtsausdruck bekommen hatte, um andere Menschen zu erschrecken.
Bill hätte über seine eigene Hilflosigkeit schreien und fluchen können. Er wünschte sich ebenfalls die Kraft dieser Schamanin, doch ihm war es nicht möglich, einen Astralleib entstehen zu lassen und ihn auf Wanderschaft zu schicken.
Da bewegten sich die Lippen!
Anders als bei den Augen hatte es Bill diesmal sofort mitbekommen. Es war auch nicht nur ein Zittern gewesen. Die Lippen hatten sich bewegt wie bei einer Person, die etwas mitteilen wollte, was sie bisher lange zurückgehalten hatte.
Wollten sie sprechen? Oder suchten sie noch nach den richtigen Worten?
Bill wartete.
Es verstrich Zeit, die dem Reporter natürlich extrem lang vorkam. Er fühlte sich jetzt sehr körperbetont. Alle Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Er wußte genau, daß etwas passieren würde, es brauchte nur mehr den nötigen Anstoß zu geben.
Er hatte sich nicht geirrt.
Imelda sprach!
Es geschah so plötzlich, daß selbst der Reporter erschrak. Er bekam große Augen, hielt die Luft an und konzentrierte sich.
Aber das war nicht ihre Stimme.
Fremde Stimmen drangen aus ihrem Mund. Sie gehörten jüngeren Menschen, das bekam Bill schon mit.
Zum erstenmal hörte er auch Worte und verstand Fragmente irgendwelcher Sätze.
Er hörte zu.
Und so erfuhr er das Schreckliche. Die beiden fremden Stimmen unterhielten sich über Johnny, seinen Sohn…
***
Sheila hatte recht behalten. Von dieser Richtung aus, die wir fahren mußten, um den Weg der Jungen nachzuvollziehen, gelangten wir mit dem Auto nicht zum Friedhofseingang. Da hätten wir schon von der anderen Seite her kommen müssen, denn der Weg war für ein Auto zu schmal. Unter Umständen hätte ich den Rover noch hineingeschoben, aber zwei fest im Boden verankerte Pfosten zu Beginn des Wegs hatten dies unmöglich gemacht.
Also hielten wir an und stiegen aus.
Ich hörte Sheila tief ausatmen, als sie den Wagenschlag hinter sich zugeworfen hatte, und fragte natürlich nach dem Grund, sie aber schüttelte nur den Kopf.
»Willst du nichts sagen?«
Wir trafen uns vor der Kühlerhaube.
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