1 - Wächter der Nacht
Ilja über den Mund. »Der kommt sonst wirklich.«
»Er muss mindestens dreißig Meter …«
»Zweiunddreißig. Und er wächst weiter.«
Rasch schaute ich auf meine Schulter, wo ich Olga erblickte. Sie war aus dem Zwielicht herausgetreten.
Haben Sie jemals einen erschrockenen Vogel gesehen? Wie ein Mensch erschrocken?
Der Eule schien sich das Gefieder zu sträuben. Ob Federn zu Berge stehen können? In ihren Augen brannte ein gelb-orangefarbenes Bernsteinfeuer. Meine arme Jacke wurde an der Schulter völlig zerfetzt, während die Krallen weiter und weiter auf sie einhackten, als wollten sie sich bis zu meinem Fleisch vorarbeiten.
»Olga!«
Ilja drehte sich um und nickte. »Ach ja … Der Chef behauptet, dass der Strudel in Hiroshima kleiner war.«
Die Eule flatterte mit den Flügeln und erhob sich lautlos und leicht in die Luft. Hinter mir kreischte eine Frau auf – ich drehte mich um und blickte in ein entsetztes Gesicht und weit aufgerissene Augen, die dem Vogel folgten.
»Da fliegt eine Krähe«, verkündete Ilja ruhig, wobei er sich halb zu der Frau herumdrehte und sie beobachtete. Seine Reaktionsfähigkeit übertraf die meine bei weitem. Im nächsten Moment hatte die zufällige Zeugin uns umrundet, wobei sie unzufrieden etwas über den viel zu schmalen Pfad und über Leute brummelte, die anderen gern den Weg versperren.
»Wächst er schnell?«, fragte ich und nickte in Richtung Wirbelsturm.
»Schubartig. Jetzt läuft gerade die Stabilisierung. Der Chef hat Ignat noch rechtzeitig abberufen. Gehen wir …«
Die Eule umkreiste den Wirbelsturm in weitem Bogen und ging dann tiefer, um über unseren Köpfen dahinzufliegen. Einen Rest Selbstbeherrschung hatte Olga sich bewahrt, doch das unvorsichtige Herauskommen aus dem Zwielicht ließ auf ihre Konfusion schließen.
»Was hat er denn angerichtet?«
»Im Grunde nichts … ist nur ein bisschen zu selbstsicher aufgetreten. Er hat sie angesprochen. Dann wollte er’s übers Knie brechen und hat damit ein Anwachsen des Strudels bewirkt … Und was für eins.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte ich verwirrt. »Ein solches Wachstum ist nur denkbar, wenn ein Magier ihn zusätzlich mit Energie auflädt und so das Inferno heraufbeschwört …«
»Genau darum geht es. Irgendjemand ist Ignats Spur gefolgt und hat Öl ins Feuer gegossen. Hier lang …«
Wir gelangten zum Eingang des Hauses, das uns gegen den Wirbel abschirmte. Die Eule kam uns im letzten Augenblick hinterhergeflogen. Verständnislos sah ich Ilja an, fragte jedoch nichts. Es würde sich ohnehin gleich herausstellen, weshalb wir hier waren.
In einer der Wohnungen im Erdgeschoss war der Einsatzstab eingerichtet worden. Die gewaltige Stahltür, in der Welt der Menschen fest verschlossen, stand im Zwielicht sperrangelweit offen. Ohne zu zögern tauchte Ilja ins Zwielicht ein und ging weiter, während ich einige Sekunden brauchte, um meinen Schatten aufzuheben und ihm zu folgen.
Die große Wohnung hatte vier Zimmer, alle sehr gemütlich. Es war laut, warm und verraucht.
Mehr als zwanzig Andere hatten sich hier einquartiert. Sowohl Fahnder als auch wir, die Büroratten. Niemand achtete auf mein Kommen, wohingegen Olga die Aufmerksamkeit auf sich zog. Mir war klar, dass die alten Mitarbeiter der Wache sie kannten, auch wenn niemand Anstalten machte, die weiße Eule zu begrüßen oder ihr zuzulächeln.
Was hast du nur angestellt?
»Ins Schlafzimmer, da ist der Chef«, meinte Ilja, der seinerseits auf die Küche zusteuerte. Von dort war das Klirren von Gläsern zu hören. Vielleicht tranken sie Tee, vielleicht auch etwas Stärkeres. Ich warf kurz einen Blick in die Küche und überzeugte mich, dass ich Recht hatte. Ignat sollte gerade mit Kognak aufgepäppelt werden. Unser Sexterrorist wirkte völlig geschlagen und am Boden zerstört, einen derartigen Reinfall hatte er lange nicht einstecken müssen.
Ich ging weiter, stieß die erstbeste Tür auf und spähte hinein.
Das Kinderzimmer. In einem kleinen Bett schlief ein fünfjähriges Kind, daneben auf dem Teppich seine Eltern und ein Mädchen im Teenageralter. Alles klar. Man hatte die Mieter der Wohnung in süßen und tiefen Schlaf geschickt, damit sie uns nicht in die Quere kamen.
Natürlich hätte der gesamte Stab auch im Zwielicht operieren können, doch wozu hätten wir unsere Kräfte auf diese Weise vergeuden sollen?
Jemand klopfte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah Semjon vor mir.
»Der Chef ist da«, sagte er bloß. »Sieh zu
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