10 SCIENCE FICTION KRIMINAL-STORIES
raufte sich das Haar, suchte vergebens nach einem neuen Titel.
Man konnte doch ein so kleines, einsames weibliches Wesen nicht anprangern!
Der Staatsanwalt saß da mit geschlossenen Lippen und dem Ausdruck eines Mannes, dem man achtzig Prozent des Bodens unter den Füßen weggezogen hatte.
Er kannte das Volk.
Er vermochte dessen Reaktion auf zehntausend Stimmen plus oder minus zu schätzen.
Alle blickten auf die goldenen Augen. Sie waren noch immer groß, aber irgendwie waren sie weich und leuchtend geworden, was man früher nicht bemerkt hatte. Jetzt sah man es. Nachdem man es wußte, konnte man es wirklich sehen, daß sie weiblich waren. Und auf sonderbare, unerklärliche Weise war die ganze Gestalt anders, weniger unmenschlich, vielleicht sogar entfernt menschlich geworden!
Mit geschicktem Einfühlungsvermögen ließ der Verteidiger genügend Zeit für die Zuhörer, ihre Gedanken zu sammeln, bevor er sorgfältig zum nächsten Schlag ausholte.
»Euer Gnaden, es gibt einen Zeugen für die Verteidigung.«
Der Staatsanwalt lehnte sich zurück und schaute sich suchend um. Die Richter putzten ihre Brillen und schauten ebenfalls. Einer von ihnen gab einem Gerichtsbeamten ein Zeichen, worauf dieser sofort brüllte:
»Der Zeuge für die Verteidigung!«
Der große Saal hallte das allgemeine Murmeln wider.
»Der Zeuge für die Verteidigung. Es gibt einen Zeugen für die Verteidigung!«
Ein kahlköpfiger, kleiner Mann kam mit einem großen Kuvert nach vorne. Als er den Zeugenstuhl erreichte, nahm er ihn nicht selbst ein, sondern legte eine Fotografie in der Größe von hundert mal sechzig Zentimeter darauf.
Sowohl das Gericht als auch die Kameras schenkten dem Bild nur einen kurzen, flüchtigen Blick, denn es war eindeutig erkennbar. Eine Dame, die eine Fackel hielt.
Mißgestimmt und stirnrunzelnd stand der Staatsanwalt auf und beklagte sich: »Euer Gnaden, wenn man meinem Gegner erlaubt, die Freiheitsstatue als Zeugen zu behandeln, wird er dieses ganze Verfahren der Lächerlichkeit preisgeben und …«
Ein Richter unterbrach ihn mit der scharfen Bemerkung: »Wir sind durchaus fähig, die Würde dieses Gerichtes zu wahren!«
Er widmete sodann seine Aufmerksamkeit dem Verteidiger, blickte ihn über die Ränder seiner Brille an und sagte:
»Ein Zeuge ist dann als solcher anzusehen, wenn er der Jury helfen kann, ein gerechtes Urteil zu fällen.«
»Ich bin mir dessen bewußt, Euer Gnaden«, versicherte der Verteidiger, nicht im geringsten verstört.
»Sehr gut.«
Der Richter lehnte sich leicht erstaunt zurück.
»Lassen Sie das Gericht die Aussage des Zeugen hören.«
Der Verteidiger gab dem kleinen Mann ein Zeichen, worauf dieser unverzüglich eine weitere große Fotografie brachte und über die erste legte.
Man sah die riesige Säulenplatte; der bronzene Rocksaum der Dame »Freiheit« war oben kaum sichtbar.
Da standen Worte auf der Platte, geschrieben in großen und kühnen Lettern.
Einige der Richter blickten wieder nur kurz hin, da sie ja diese Worte auswendig kannten, aber die anderen lasen sie durch, einmal, zweimal, ja, sogar dreimal.
Viele, unter ihnen solche, die Jahre hindurch täglich zweimal nahe daran vorübergingen, hatten diese Worte nie zuvor gelesen. Millionen von Menschen, denen diese Worte neu waren, wurden sie nun im Bild übermittelt. Ein Sprecher wiederholte sie über den Rundfunk.
Send me your tired, your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free.
The wretched refuse of your teeming shore,
Send these, the homeless, tempest-tost to me –
I lift my Lamp beside the Golden Door.
Schickt mir eure Müden, eure Armen,
Eure Massen, die sich sehnen, frei zu atmen
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