1013 - Der Blut-Abt
und zu hohen Festtagen sorgte er auch für den Blumenschmuck.
Warum fühle ich mich so unwohl? fragte er sich und blieb zunächst einmal stehen.
Er konnte den Grund nicht nennen.
Das Innere der Kirche sah aus wie immer. Es war nichts verstellt worden. Und es roch nach Weihrauch und Kerzenruß. Irgendwie auch feierlich.
Niemand hatte sich am Altar zu schaffen gemacht. Niemand hatte die Bilder verhängt oder die blassen Fresken bemalt. Diese Kirche sah aus wie an jedem Tag, und doch störte Anselm etwas.
Mit den Kerzen unter dem Arm bewegte er sich auf die Sitzreihen zu. Durch einen Mittelgang waren sie geteilt, und er legte die Kerzen auf die erste Sitzbank. Von diesem Platz aus schaute er geradewegs auf den Altar, der einen noch frischen Blumenschmuck aufwies, weil Anselm ihn erst am gestrigen Tag ausgewechselt hatte.
Ihm fiel bei einem Rundblick auf, daß er die Seitenpforte nicht ganz geschlossen hatte, und er wollte das nicht nachholen, weil er das Gefühl bekam, sich einen Fluchtweg offen halten zu müssen.
»So ein Unsinn«, murmelte er kopfschüttelnd. »Das ist mir noch nie in den Sinn gekommen. Wie kann man nur derartige Gedanken haben?«
An den Fenstern lag es nicht. Niemand hatte ein Loch in das bunte Bleiglas geschlagen. Die Düsternis in der Kirche war eine Folge der wetterlichen Veränderung. Draußen wurde es immer dunkler, als könnte es die Nacht nicht mehr abwarten, den Tag abzulösen.
Anselm ging noch nicht zum Altar. Er durchwanderte zunächst den Innenraum, schaute sogar vorsichtig in die Beichtstühle hinein, die allerdings leer waren.
Dennoch fühlte er sich hintergangen, beobachtet, wie auch immer.
Er kam mit den Dingen nicht zurecht, die im Prinzip nicht vorhanden waren. Auf leisen Sohlen ging er wieder zurück in die Nähe des Altars und kümmerte sich um die Kerzen. Er klemmte sie wieder unter dem Arm fest und näherte sich dem Altar. Eine Stufe mußte er dazu überwinden, dann stand er auf der Plattform, auf der auch der Tisch des Herrn seinen Platz gefunden hatte.
Es war der kleine, relativ schmucklose Altar. Der andere stand weiter zurück. Er bildete praktisch das Ende des Kirchenschiffs. Nur zu hohen Festtagen wurde von ihm aus die Messe gefeiert.
An den Seiten und vor dem Hochaltar standen die einfachen Holzstühle, auf denen die Mönche ihre Plätze fanden, wenn sie sangen oder beteten.
Vor dem kleinen Gabentisch blieb Bruder Anselm stehen. Er schaute gegen das schlichte Holzkreuz. Unter ihm lag eine weiße Decke. Mehr war dort nicht zu sehen.
Anselm legte die Kerzen auf den Altar und bekreuzigte sich. Er wollte zuerst die abgebrannten aus den in der Nähe stehenden Ständern ziehen und die neuen hineinstellen.
Die schweren, gußeisernen Ständer hoben sich kontrastreich von der grauweißen Wand ab. Auf jeder Seite standen drei, und sie waren älter als drei, vier Menschenleben zusammen.
Anselm nahm sich die rechte Seite vor. Er löste die Stummel aus den Halterungen und brachte sie ebenfalls zum Altar, wo er sie niederlegte.
Seine Hand griff bereits nach den neuen Kerzen, als er mitten in der Bewegung erstarrte.
Er hatte etwas gehört!
Bruder Anselm blieb starr stehen. Seine sowieso schon blasse Gesichtshaut wurde noch kalkiger, und er spürte, wie es kalt seinen Rücken hinabrieselte.
Das hier war nicht normal. Er war allein in der Kirche und wußte genau, daß dieses Geräusch nicht von ihm stammte, sondern von einem Fremden. Außerdem konnte er es nicht richtig einordnen; ein Mensch hatte es wohl nicht abgegeben.
Wer dann?
Er versuchte, sich an die Richtung zu erinnern. Neben dem Altar drehte er sich einfach auf der Stelle, wobei seine Gänsehaut zunahm, als er den Schatten zwischen den Bankreihen umherhuschen sah.
Für den Mönch unerklärbar.
Er wagte nicht, sich zu rühren und bewegte dabei nur seine Augen, um den Eindringling verfolgen zu können.
Anselm sah ihn nicht mehr. Der Schatten mußte sich zwischen den Reihen versteckt haben, aber er würde sicherlich irgendwann wieder hervorkommen, man mußte nur Geduld zeigen.
Die hatte er nicht. Zumindest fiel es ihm schwer. Er atmete heftig, obwohl er es nicht wollte. Draußen bewegte der Wind die Wolken, und ihre Schatten zeichneten sich hinter den Fenstern ab wie unheimliche Riesen, die über den Himmel ritten.
Aber damit hatte der Schatten nichts zu tun. Er war etwas anderes.
Er war kein Mensch, und für Bruder Anselm kam nur eine Alternative in Frage.
Ein Tier!
Es mußte ein Tier sein. Ein Hund
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