1018 - Die Betschiden und der Jäger
sich umständlich neben ihm nieder. Surfos Verstand raste. Er beherrschte den Blinkcode der Ai so unvollkommen, daß er sich spätestens beim übernächsten Satz verraten würde. Was war zu tun? Er konnte vorgeben, er hätte ein Gelübde getan, allein zu bleiben und jede Gesellschaft zu meiden. Nein, dazu war es zu spät. Er hatte den Ai schon zum Platznehmen aufgefordert. Außerdem - wie hätte er eine so komplizierte Aussage fehlerfrei blinken sollen?
„Du kannst sprechen?" schnarrte er.
Der Ai machte eine vage Geste der Zustimmung. „Kann sprechen", drang es aus seiner Kinntasche. „Nicht gut." Es beunruhigte Surfo, daß er gleichzeitig blinkte.
„Muß üben", sagte er, ohne zu blinken. „Land gehört den Kranen. Kein Auskommen, wenn man ihre Sprache nicht kennt."
„Ja, das ist so", blinkte sein Gesprächspartner.
Surfo hielt ihm ein Stück gebratenen Fleisch hin. „Hunger?" fragte er.
„Dank", blinkte der Ai. „Kranische Nahrung bekommt mir nicht."
Es war eine merkwürdige Unterhaltung. Der Ai blinkte, und Surfo sprach. Mehrmals flocht er ein, daß es wichtig sei, die Sprache der Kranen zu erlernen und zu beherrschen.
Es klang schon fast wie die Wiedergabe einer Tonaufzeichnung.
„Aus welchem Teil von Forgan VI kommst du?" fragten die Blinksignale des Ai. |Surfo spürte, wie ihm das Blut stockte. Was wußte er über Forgan VI? Nicht mehr, als er in jener letzten Nacht in Gruda vom Bibliotheksdienst erfahren hatte. Forgan VI, eine heiße Tropenwelt, nur in den Polargegenden besiedelbar, wichtigste Siedlungen in der Nordpolarzone.
„Südpol", schnarrte er.
„Oh, ich auch", signalisierte der Ai. „Kennst du ..."
Was Surfo hätte kennen sollen, erfuhr er nicht. Die Blinksignale waren unverständlich.
Er nahm an, daß es sich um einen Namen handele, den Namen einer Stadt oder eines Siedlers.
„Kenne nicht", antwortete er. „In den Bergen aufgewachsen. Stadt nie gesehen."
Der Ai schwieg und sah auf das ruhige Wasser des Sees hinaus. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden. Dunkelheit stieg aus dem Tal an den Wänden der östlichen Berge hinauf. Ein paar Minuten vergingen. Surfo hatte Hunger, aber er getraute sich nicht zu essen. Der Ai hätte seine Hände gesehen und seine Kaubewegungen bemerkt.
Gerade in dem Augenblick, in dem Surfo sich entschlossen hatte, einen Satz in Blinkcode zu formulieren, um sich nicht noch verdächtiger zu machen, stand der Ai auf.
„Du bist kein Bruder", sagte er in einwandfreiem Krandhorjan. „Du trägst eine Maske, eine sehr gute Maske. Ich weiß nicht, warum du so aussehen willst wie einer von uns.
Aber einen Rat kann ich dir geben: Lerne, dich auszudrücken wie ein Ai."
Surfo sah niedergeschlagen vor sich hin. Der Ai regte sich nicht. Er wartete auf seine Antwort.
„Dein Rat ist gut", sagte Surfo schließlich, „aber ich werde nicht mehr dazu kommen, ihn zu befolgen. Ich habe diese Maske angenommen, weil sie die einzige ist, die zu meinem Körperbau paßt. Ich habe nicht vor, mich länger als unbedingt notwendig als ein Mitglied deines Volkes auszugeben. Und die Wahl meiner Maske bedeutet nicht, daß ich dein Volk geringschätze."
„Ich weiß es, mein Freund", antwortete der Ai ruhig. „Du bist ein Verfolgter." Es war eine Feststellung, keine Frage.
„Aus eigener Wahl. Ich habe nichts verbrochen. Ich habe niemand Schaden zugefügt.
Aber ich verfolge meine eigenen Ziele. Darum muß ich mich verstecken."
„Wie ist dein Name?" fragte der Ai. „Ich meine deinen angenommenen Namen. Deinen Ai-Namen."
Es wäre ein grober Verstoß gegen die guten Sitten gewesen, die Frage akustisch zu beantworten. „Mit-Schwingen", blinkte Surfo.
„Ein guter Name, mein Freund", sagte der Ai. „Wir sind Fremde in diesem Reich, du und ich. Die Herzöge von Krandhor haben uns ein Leben aufgezwungen, das wir von uns aus niemals gewählt hätten. Das Universum ist in Aufruhr. Ich habe den Glauben, daß alles dem Guten dient. Das Orakel berät die Herzöge. Das Orakel will allen Wesen wohl, nicht nur den Kranen. Eines Tages wird es ein mächtiges Sternenreich geben, über das alle Sternenvölker gleichberechtigt herrschen. Aber bis es soweit ist, herrscht die Ungewißheit, und es wird Geschöpfe geben wie mich, die ziellos einherwandern, und solche wie dich, die sich unter der Maske eines Fremden verstecken müssen."
Er hielt inne und sah auf die dunkle, unbewegte Oberfläche des Sees hinaus. „Inzwischen wünsche ich dir Glück auf den Weg, mein Freund",
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