1019 - Das Vampirfenster
setzen?«
»Entschuldigung, John. In der Aufregung habe ich völlig vergessen, Ihnen einen Platz anzubieten.«
»Macht nichts, das ist verständlich.«
Ich nahm meinen Platz ihr gegenüber ein. »Möchten Sie auch etwas trinken?«
»Ich habe mir ein Bier bestellt.«
Gilian lächelte. »Wie damals im Pub.«
»Genau.«
Sie strich durch ihr Haar. »Wie lange ist das schon her? Wochen, nicht wahr?«
Das Bier wurde gebracht. Die Besitzerin lächelte sehr nett und versprach uns auch, daß sich das Wetter halten würde. »So jedenfalls haben sie es für die nächsten beiden Tage vorausgesagt.«
»Das ist mal eine gute Nachricht«, sagte ich.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen, Mrs. Kyle?«
»Ja, bringen Sie mir einen Whisky.«
»Sehr gut. Einen Scotch?«
»Natürlich.«
»Haben Sie den Schluck nötig, jetzt, wo ich hier bei Ihnen bin?«
»Das hängt nicht mit Ihnen zusammen. Hin und wieder genehmige ich mir ein Glas.«
Ich hatte mir Gilian Kyle anschauen können und war zu der Erkenntnis gekommen, daß sie nicht unbedingt ausgeschlafen aussah.
Sie wirkte erschöpft. Davon zeugten die Ränder unter den Augen, die sich als dunkle Halbkreise abzeichneten. Die Haut an den Wangen schien noch stärker eingefallen zu sein. Auch die Lippen kamen mir dünner vor. Insgesamt wirkte sie fahrig. Gilian trug blaue Jeans.
Dazu ein helles Sweatshirt. An den Füßen sah ich Leinenschuhe mit flachen Absätzen. »Wenn Sie etwas essen wollen, John, hier gibt es wunderbaren Kuchen.«
»Nein, danke. Ich habe unterwegs an einer Raststätte meinen Hunger gestillt.«
»Dann cheers.« Sie hob das Glas an, was ich mit meinem ebenfalls machte.
Das Bier war kühl, hatte auch Schaum, schmeckte mir gut, und Gilian leerte ihr Glas bis zur Hälfte, bevor sie es wieder auf den Tisch stellte. »Wie gefällt es Ihnen hier, John?«
»Sehr gut. Eine Idylle. Wenn ich mich konzentriere, höre ich sogar das Rauschen des Bachs.«
Ihr Lächeln wurde entkrampfter. »Ja, es ist einfach herrlich hier.«
»Und Sie machen Urlaub?«
Ihr Blick verglaste. »Urlaub?« flüsterte sie. »Nein, das ist ein Irrtum.«
»Oh, das wußte ich nicht.«
»Ich arbeite hier.«
Gilian Kyle hatte den Satz leicht dahingesagt, und ich konnte nur den Kopf schütteln. »Arbeiten – hier?«
»Haben Sie denn vergessen, was ich beruflich mache?«
»Genau weiß ich es nicht mehr, wenn ich ehrlich bin. Sie haben etwas mit Architektur zu tun – oder?«
»Ja, in diese Richtung geht es schon. Ich bin Restauratorin.«
»Stimmt. Für Fenster?«
»Eben.«
Ich drehte mich auf dem Stuhl sitzend um. »Haben Sie etwa hier Fenster restauriert?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich kümmere mich um alte Bauten. Haben Sie bei der Ankunft nicht die Kirche gesehen?«
Ich überlegte. »Schon, leider nicht genau. Ich sah den Turm. Man kann ihn ja nicht übersehen.«
»Dieser Turm ist wichtig. Oder die Kirche. Sie ist ziemlich alt. Wunderbare Gotik. Ich darf mich da um die alten Fenster kümmern. Um das Mauerwerk kümmern sich andere. Die Kirche ist praktisch für die nächste Zeit stillgelegt worden, aber wenn alles fertig ist, kann man sicherlich stolz auf sie sein.«
»Wenn Sie das sagen, glaube ich es.«
Gilian drehte das Glas zwischen den Handflächen. Auch ein Beweis ihrer Nervosität. An das eigentliche Thema hatte sie sich noch nicht herangewagt. Sie kam mir so vor, als könnte sie keinen richtigen Anfang finden.
Schließlich sagte sie und schaute dabei auf die Tischplatte: »Sie haben den Brief also bekommen?«
»Sonst wäre ich nicht hier.«
»Und? Was haben Sie gedacht?«
Ich hob die Schultern. »Das ist schwer zu sagen, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Glauben Sie mir denn?«
Ich lächelte ihr zu. »Wenn ich mir die Umgebung hier so anschaue, kann ich beim besten Willen nichts Bedrohliches feststellen. Da bin ich ehrlich.«
»Aber ich werde bedroht.«
»Von wem?«
Auf diese Frage erhielt ich zunächst keine Antwort. »Es ist sehr schwer zu sagen«, murmelte sie und starrte ins Leere. »Ich habe Mühe, damit zurechtzukommen.«
»Bitte, Gilian, Sie haben mich ja nicht grundlos hergeholt.«
»Ja, das stimmt alles«, gab sie nickend zu. »Aber wenn ich Ihnen das erkläre, werden Sie mich auslachen.«
»Versuchen Sie es.«
Gilian Kyle suchte nach Worten. Sie war nervös und wischte ihre Handflächen wiederholt an der Hose ab. »Schon bei unserer ersten Begegnung habe ich zu Ihnen Vertrauen gefaßt, und auch jetzt denke ich nicht anders über Sie. Deshalb… na
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