1035 - Die Totenkammer
und blieb dort stehen. Durch den offenen Mund holte er Luft, während er nach vorn auf den offenen Sarg glotzte, in dem seine tote, über alles geliebte Frau lag und sich nicht mehr bewegen konnte.
Tristan Levine bewegte den Kopf. Er schaute nach rechts, auch wieder nach links und richtete den Blick danach nach vorn, denn ihm gegenüber lag die zweite Tür.
Sie war im Dunkeln so gut wie nicht zu erkennen, weil sie sich kaum von der Wand abhob. Jetzt aber, wo das Licht der Kerzen dagegen tanzte, sah es aus, als führe sie ein Eigenleben.
Aber sie blieb geschlossen. Nichts tat sich dort. Nur einige Spinnweben schimmerten wie glühende, hauchdünne Drähte.
Der Professor schüttelte den Kopf. Er konnte die Geste selbst nicht begreifen, doch es hatte sein müssen. Dieser andere Keller war ebenfalls wichtig. Er stellte so etwas wie ein Pendant zu diesem hier dar.
Zwei Gegensätze, die sich allerdings anziehen würden, wenn die richtige Konstellation vorhanden war.
Levine kämpfte mit sich selbst. Auch äußerlich zeichnete sich bei ihm dieser innere Kampf ab. Er schwitzte stark. Seine Haare waren naß geworden. Sie sahen jetzt nicht mehr grau aus, sondern klebten dunkel und ölig in Strähnen auf seinem Kopf.
Von der Wand stieß er sich ab.
Seine Schritte waren taumelig. Er selbst schwankte hin und her und hatte die Arme zur Seite gestreckt, um sein Gleichgewicht zu bewahren. Er passierte den Sarg und nahm den direkten Weg zur zweiten Tür. Den Kopf hatte er nach vorn geschoben. So glich er einem Raubtier, das anfing zu schnüffeln.
Vor der Tür blieb er stehen. An ihr gab es nichts Besonderes. Sie war schlicht, bestand aus dicken Bohlen und konnte geöffnet werden, wenn ein Riegel zur Seite geschoben wurde.
Das tat er. Es war immer so leichtgegangen, diesmal allerdings gab es Probleme. Es lag an ihm, nicht am Riegel. Er fühlte sich einfach zu schwach. Aus seiner Kehle drang ein wütender Laut, dann endlich hörte er das kratzende Geräusch, als der Riegel über das Holz glitt.
Jetzt konnte er die Tür aufziehen.
In den schmalen Griff paßte seine Hand hinein. Das war überhaupt kein Problem. Er hörte das Schreien des Holzes, das Protestieren, als hätten sich Geister darin versteckt.
Darin war die Tür offen.
Levine starrte in den zweiten Kellerraum. Er sah nichts, denn es war einfach zu finster. Das Licht der Kerzen verlor sich noch vor der Schwelle oder glitt über seine Schuhe hinweg.
Der Geruch baute sich vor ihm wie eine Mauer auf. Ja, er hatte die Leichen präpariert, aber er hatte es mit seiner Arbeit nicht so genau genommen. Es war einfach zu schnell gegangen. So überwog der Geruch der Verwesung.
Die Hand des Professors zitterte, als sie über die Wand an der rechten Seite hinwegglitt. Über die feinen Härchen tanzten zahlreiche kleine Insekten, zumindest hatte er den Eindruck.
Tristan Levine fand den Schalter.
Er drehte ihn.
Er machte Licht!
Über der Decke schien ein Planet oder Gestirn aufzuleuchten. Das kalte Licht füllte den Raum. Fast schattenlos strahlte es von oben und beleuchtete ein schreckliches Bild…
***
Die Sekretärin des Dekans sah aus, als wollte sie uns töten. Vor ihrem Schreibtisch hatte sie sich wie ein Racheengel aufgebaut, während Suko die Tür schloß.
»Was wollen Sie denn jetzt schon wieder?« fuhr sie uns an.
»Bestimmt nicht zu Ihnen.«
»Das kann ich mir denken, aber der Professor möchte gern in die Pause gehen. Das ist seine Zeit.«
»Dann muß er sie eben verschieben«, sagte ich.
»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Kaum.«
Sie merkte, daß sie bei uns auf Granit biß, und wollte uns anmelden, aber wir kamen ihr zuvor. »Bemühen Sie sich nicht«, sagte ich und hatte sie schon passiert, ebenso wie Suko.
»Ja, aber…«
Das letzte Wort hörten wir, als ich die Tür ziemlich heftig nach innen schob. Sie selbst ließ sich lautlos bewegen. Weniger lautlos war das Schnarchen des Dekans. Er hatte es sich bequem gemacht, den Ledersessel zurückgekippt und die Beine auf den Schreibtisch gelegt. Sein Mund stand offen, und hinter unserem Rücken hörten wir das Räuspern der Vorzimmerdame.
Dieses Geräusch kannte Professor Lester. Er schreckte aus seinem Tiefschlaf hoch und schaute irritiert um sich. Er blickte auch uns an.
Dabei sahen wir, daß er mit der neuen Lage noch nicht so recht fertig wurde. Er setzte sich aufrecht, wischte über sein Haar und stammelte einige Entschuldigungen.
»Jedem sei die Pause gegönnt«, sagte ich, »auch
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