106 - Das Ghoul-Imperium
drogenabhängig war. Dieses bleiche, ausgemergelte Gesicht…
Er ließ sich nicht mehr blicken. Fünf Minuten vergingen. Erleichtert und zufrieden verließ Joanne Jampers nun die Werkstatt. Sie trat vor einen großen Spiegel und erneuerte ihr Make-up.
Das Telefon läutete, und Joanne Jampers zuckte doch ein wenig zusammen. Sie begab sich zum Apparat und meldete sich. Am anderen Ende war James Muni.
»James!« sagte die Boutiquenbesitzerin. »Wo, zum Teufel, stecken Sie?«
»Tut mir schrecklich leid, Joanne«, erwiderte Muni zerknirscht. »Aber ich kann nicht kommen.«
»Sie versetzen mich? Das ist aber nicht schön von Ihnen, mein Lieber.«
»Ich bin untröstlich…«
»Was ist Ihnen denn dazwischengekommen?« fragte Joanne. »Eine andere Frau?«
»Wo denken Sie hin. Sie wissen doch, wie ich zu Ihnen stehe und was ich für Sie empfinde. Ich befand mich auf dem Weg zu Ihnen, da schoß mich so ein Trunkenbold eiskalt ab.«
»Sie hatten einen Unfall?«
»Tja, leider.«
»Ist Ihnen etwas passiert?« fragte Joanne.
»Zum Glück nicht, aber mein Wagen ist im Eimer, wie man so schön sagt«, klagte James Muni. »Ich kann hier nicht weg, befinde mich noch an der Unfallstelle. Die Polizei ist hier. Der andere Auotfahrer ist am Ohr verletzt. Schrecklich, wie der blutet… In Kürze wird der Krankenwagen eintreffen. Ich wäre mit einem Taxi gekommen, doch leider läßt man mich nicht weg.«
»Nun machen Sie sich meinetwegen mal keine Sorgen, James«, sagte Joanne Jampers freundlich. »Sehen Sie lieber zu, daß Sie Ihren Schaden auf Heller und Pfennig ersetzt bekommen. Ich bin ein erwachsenes Mädchen und gehe nicht zum erstenmal allein nach Hause.«
»Aber es ist schon spät«, wandte Muni ein. »Und ich habe Ihnen versprochen…«
»Das ist höhere Gewalt«, fiel ihm Joanne ins Wort. »Dagegen sind wir machtlos, James. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Darf ich Sie morgen anrufen?«
»Aber natürlich«, sagte Joanne. »Gute Nacht, James.«
Sie legte auf, nahm die Tageseinnahme aus der Kasse und steckte sie in ihre Handtasche.
Bereits drei Minuten nach James Munis Anruf verließ Joanne die Boutique. Sie schloß gewissenhaft ab.
»Guten Abend«, sagte plötzlich jemand hinter ihr.
Erschrocken drehte sie sich um.
Der Junkie! dachte sie, aber dann sah sie einen großen, schlanken, gutaussehenden Mann, der elegant gekleidet war. Er hatte zwar ein schmales, fahles Gesicht, aber er war bestimmt nicht drogenabhängig, und in seiner Brieftasche befand sich wahrscheinlich mehr Geld als in ihrer Handtasche.
Joanne Jampers glaubte nicht, Angst vor ihm haben zu müssen. Sein Äußeres war so gewinnend, daß sie nichts dagegen gehabt hätte, wenn er sie ein Stück begleitet hätte.
»Ist das Ihre Boutique?« fragte der Mann.
»Ja.«
»Ich komme ab und zu hier vorbei. Sie arbeiten oft bis spät in die Nacht.«
»Ich muß. Eine zweite Schneiderin trägt das Geschäft leider nicht«, antwortete Joanne.
»Mein Name ist Answard Brewster,«
»Ich heiße Joanne Jampers.«
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miß Jampers. Darf ich Ihnen meine Begleitung anbieten? Es ist nicht gut, wenn ein junges, hübsches Mädchen um diese Zeit allein durch Londons Straßen geht. Es gibt viel lichtscheues Gesindel. Wenn Sie in Begleitung eines Mannes sind, wird niemand Sie behelligen.«
»Ich finde es sehr nett von Ihnen, daß Sie sich meiner annehmen.«
»Das tue ich gern«, erwiderte der gutaussehende Mann.
Sie gingen nebeneinander, kamen an einer Straßenlaterne vorbei, und es hätte Joanne Jampers zu denken geben müssen, daß Answard Brewster keinen Schatten warf. Nur ihr Schatten war zu sehen.
Aber sie unterhielt sich so angeregt mit diesem vollkommenen Gentleman, daß sie darauf überhaupt nicht achtete.
Der kürzeste Wege nach Hause führte durch einen Park. Joanne Jampers hätte ihn allein nicht eingeschlagen. Man soll sein Schicksal nie zu sehr herausfordern. Da sie aber in Begleitung dieses starken Mannes war, stellte es für Joanne kein Wagnis dar, diesen Weg zu nehmen.
Sobald sie sich im Park befanden, veränderte sich Answard Brewsters Stimme.
Sie wurde heiser. Brewster schien mit einemmal sehr erregt zu sein. Joanne fiel das natürlich auf, und auf einmal kam ihr die Befürchtung, sich in der Begleitung eines Sittenstrolches zu befinden.
Er hatte es nicht auf ihr Geld abgesehen, sondern auf sie!
Seine guten Manieren, seine adrette Kleidung, sein gutes Aussehen machten es ihm leicht, junge Frauen
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