1088 - Killer in der Nacht
den Gedanken über ihre Zukunft.
Was würde sein? Wie würde es weitergehen, wo sie nicht mehr unter dem direkten Schutz des Engels stand? Das hatte sie in den Jahren zuvor auch nicht gewußt und deshalb unbefangen gelebt, aber das war nun vorbei. Sie würde es nicht mehr können. Sie würde immer daran denken, ob sie das auch richtig machte oder nicht, was sie gerade an neuen Projekten in Angriff nahm.
Es war einfach zu viel auf einmal, was ihr da durch den Kopf strömte. Sie kam zu keinem Ergebnis, aber auch die Augen wollten ihr nicht zufallen.
In der Wohnung war es ruhig, und Estelle lauschte in diese Stille hinein.
Sie war eigentlich wie immer, und trotzdem kam sie ihr in dieser Nacht nicht normal vor. Die Stille lebte, obwohl es Unsinn war, wenn sie an diesen Vergleich dachte, doch sie konnte nicht anders. In der Ruhe spürte sie die Unruhe, die sich dann auf sie übertrug, was aber noch lange kein Grund war, aufzustehen und John Sinclair anzurufen. Der würde sie zu recht wegen ihrer neurotischen Überreaktion auslachen.
Ruhig liegenblieben konnte sie auch nicht. Des öfteren wälzte sie sich von einer Seite zur anderen.
Immer wieder rissen sie die Gedanken weg aus der Gegenwart.
Einige Male hatte sie auch auf die Uhr geschaut. Die Zeit verging nur quälend langsam. Jede einzelne Ziffer auf dem Blatt schien zu ihrem Feind geworden zu sein.
Mit einem Ruck stand sie auf und war doch etwas benommen, als sie auf der Bettkante saß. Der Mund war trocken. Sie brauchte unbedingt einen Schluck Wasser.
Ohne in die Schuhe zu schlüpfen, ging sie in die Küche, um dort den Kühlschrank zu öffnen. Ihr Blick fiel auf die wenigen Lebensmittel, die für einen Single ausreichend waren. Kalorienarmes Essen, schon fertig gekocht, das sie nur aufwärmen mußte.
Hunger verspürte sie keinen. Estelle griff zur Flasche, drehte den Verschluß auf und trank einen langen Schluck. Er löschte den ersten Durst. Sie nahm die Flasche mit ins Schlafzimmer und legte sich wieder ins Bett.
Die Nacht würde noch lang werden, das wußte sie, obwohl der neue Tag bereits begonnen hatte.
Und wenn sie keinen Schlaf fand, dann wurde jede Sekunde zur Qual. Wenn sie morgen zu ihrem Termin kam, würde man die doppelte Menge an Schminke nehmen müssen, um das Gesicht fotogen aussehen zu lassen.
Aber der Körper forderte auch sein Recht. Estelle merkte, wie sie lockerer wurde und sich entspannte. Sie schlief zwar nicht richtig, aber sie war auch nicht richtig wach. In einem Dämmerzustand glitt sie dahin und hatte manchmal das Gefühl, keinen Widerstand mehr in ihrem Rücken zu spüren.
Die Konturen des Schlafzimmers lösten sich auf. Sie trieb in einem anderen Zustand dahin, und auch ihr Körper war so schwer geworden. Zumindest glaubte sie das.
Traumbilder erschienen.
Es waren Szenen aus der Vergangenheit, die Estelle noch nicht verarbeitet hatte. Wieder sah sie den Zug, die beiden Blutsauger in ihrem Personalabteil, und sie sah sich auch in der Gewalt des Vampirs, der sich auf eine so unglaubliche Art und Weise verändert hatte. Seine menschliche Gestalt hatte sich in die eines drachenähnlichen Monstrums verwandelt, und noch in der Erinnerung spürte Estelle wieder seine Klauen auf ihrer Haut.
Plötzlich fing sie an zu frieren. Etwas Kaltes strich über ihren Körper hinweg und weckte sie auf.
Sie blieb auf dem Rücken liegen und hielt die Augen geöffnet. Zu sehen war nichts. Nach wie vor schwamm das weiche Licht zwischen den Wänden des Zimmers.
Warum bin ich wach geworden? schoß es ihr durch den Kopf. Warum denn nur…?
Sie wußte es nicht. Sie blieb in der Stille liegen und lauschte.
Und dann hörte sie es.
An der Tür, aber im Zimmer.
Das Atmen war wieder da!
***
Brenda Lee hatte sich wirklich beeilt oder dem Fahrer ein gutes Trinkgeld gegeben, damit er einen Zahn zulegte. Sie traf früher ein als ich es erwartet hatte.
Ich empfing die Frau in der offenen Tür. Ihr Alter war schwer zu schätzen, es mußte um die Vierzig liegen, aber sie hatte kein Make-up aufgelegt, so daß ich sehen konnte, wie stark das Leben in ihrem Gesicht seine Spuren hinterlassen hatte.
Bekleidet war sie mit einer dunkelblauen Steppjacke, schwarzer Hose und grauem Pullover. Sie wirkte auf mich abgehetzt, doch als sie jetzt vor mir stand und mich ansehen konnte, da zog sich ein Lächeln um ihre Lippen.
»Endlich, Mr. Sinclair.«
»Bitte, kommen Sie rein.«
Sie betrat die Wohnung, und ich half ihr aus dem Mantel, den ich an einen Haken
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