1095 - Der Hexentrank
zu Boden flattern lassen.
»Schau mich an, Täubchen.«
Chris senkte den Blick.
»Bin ich schön?«
»Ja, du bist schön.«
Edina riß ihren Mund wieder auf und lachte glucksend. »Ja, ich bin schön. Mein Körper braucht sich vor deinem nicht zu verstecken. Aber ich möchte noch schöner werden. Ich will dein Gesicht haben. Ich weiß selbst, wie ich aussehe, aber ich will nicht so häßlich herumlaufen. Ich will und ich werde mein Alter besiegen. Darauf kannst du dich verlassen, Chris.«
»Was sollen wir denn tun?«
»Es ist ganz einfach, meine Liebe. Wir beide werden gemeinsam ein Bad nehmen. Mein Hexentrank ist jetzt perfekt, verstehst du? Nichts kann uns mehr hindern, ihn zu trinken und in ihm zu baden. Und wenn wir ihm wieder entsteigen, wirst du ebenso sein wie ich. Ein neuer Mensch, eine Partnerin. Wir bleiben zusammen. Wir werden in deinem Haus wohnen und ein Leben führen, von dem andere Menschen nur träumen können. Nichts wird mehr so sein wie sonst, Chris. Bereite dich auf den großen Umbruch vor.«
Sie hatte jedes Wort verstanden, und sie dachte nicht daran zu widersprechen.
Als Edina ihr die Hand entgegenstreckte, faßte Chris zu. Sie ließ sich dicht an den hohen Bottich heranziehen. Für Chris war es keine Schwierigkeit, in den Bottich zu steigen, sie war groß genug. Anders verhielt es sich mit Edina, aber Chris faßte zu und half ihr hinein.
Die Hexe tauchte ein. Wieder glänzte ihr Auge. Diesmal schillerte es grünlich und erinnerte an das einer Spinne. Ihr Kichern verstummte, als sie ganz eintauchte und die sirupähnliche Masse ihren Kopf bedeckte.
Edina tauchte rasch wieder auf. Sie sah, daß ihre Nichte dabei war, ebenfalls in den Bottich zu steigen.
Chris Talbot spürte den Schleim wie dünne Hände an ihrem Körper. Sie glitten überall hin. Sie benetzten jede Hautfalte, es gab keine Stelle, die nicht erreicht wurde, und sie hörte die Stimme der alten Hexe, in der auch die Aufregung mitschwang.
»Tiefer, mein Täubchen – tiefer!«
Chris sackte in den Knien ein. Und dann schwappte das Zeug über ihr zusammen. Sie hielt den Mund fest geschlossen, denn sie wollte, daß kein Tropfen durch die Lippen floß. Sie hörte es gluckern, dann verschwand die normale Welt um sie herum, denn sie war in den Sud eingesunken.
Für eine Weile blieb Chris auf dem Boden hocken. Die Luft hielt sie an. Sie hätte normalerweise nichts hören dürfen, und trotzdem war etwas da.
Durch die Ohren brauste es in den Kopf hinein. Sie konnte die Geräusche nicht identifizieren. Sie stammten aus einer anderen Welt.
Es waren Töne, Stimmen und Gesänge zugleich, als wollte das neue Leben sie willkommen heißen.
Alles war anders für sie und auch leichter geworden. Auf ihrem Kopf spürte sie einen besonderen Druck, denn Edina hatte ihre Hand dort plaziert. Sie wollte Chris so lange wie möglich unten halten, und sie wollte auch, daß ihre Nichte irgendwann den Mund öffnete und etwas von dieser Masse trank.
Es kam so wie es kommen mußte. Chris öffnete die Lippen. Eine knappe Bewegung, die Edina jedoch mitbekam. Edina zog die Hand sofort von Chris’ Kopf.
Chris tauchte auf.
Mit aufgerissenem Mund, in den der widerliche Schleim des Hexentranks noch hineindrang. Dagegen tat sie nichts. Chris schmeckte ihn auf der Zunge, während sie nach Atem rang und sich am Rand des Bottichs festhielt.
Der Geschmack war fremd, doch nicht so übel wie sie es sich vorgestellt hatte. Süß und bitter zugleich. Nicht kalt, dafür beinahe angenehm warm. Er schmeckte nach Kräutern, nach Wald, nach Erde, aber auch sehr streng und bitter.
Sie hatte ihre Arme angehoben und wischte über ihr Gesicht, um die Augen frei zu bekommen.
Beide hielten sich im Bottich auf.
Edina stand vor ihr.
Sie war kleiner, was jetzt besonders auffiel, denn nur ihr Kopf schaute hervor; mit dem Kinn berührte sie noch die Oberfläche der Flüssigkeit. Der Mund öffnete sich beim Grinsen und wurde zu einem schiefen Loch. »Jetzt hast du deine Hexentaufe hinter dich gebracht, mein Täubchen. Nun gehörst du mir und zu mir. Tante und Nichte sind wieder zusammen. Mein Plan hat geklappt, auch wenn es lange gedauert hat, bis ich ihn endlich umsetzen konnte und ich dich hier in meinem Haus zu Besuch hatte. Ich bin sehr zufrieden, meine Kleine, und es gibt nichts mehr, was uns jetzt noch trennen kann.«
Chris Talbot gab keine Antwort. Sie spürte, wie die letzten Spuren des Tranks an ihrem Gesicht herabrannen und sich wieder mit der Masse vereinigten.
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