1159 - Mörderische Nixenwelt
geworden.
Das bereitete mir Sorgen. Der Druck in meiner Brust nahm von Sekunde zu Sekunde zu. Das Gefühl der Angst schlich sich heran, und auch Harry Stahl war mein ungewöhnliches Verhalten aufgefallen.
Als ich kurz in die Höhe schaute, da sah ich sein heftiges Winken, dem auch eine Frage folgte. »He, John, was ist da los?«
»Sieht nicht gut aus. Das Wasser…«
»Ja, verdammt, es kommt.«
»Bei dir auch?«
»Nein, ich merke noch nichts.« Deutlich war das Zittern in seiner Stimme zu hören. »Komm jetzt da weg, so lange es noch geht.«
»Gehen ist nicht mehr möglich. Ich müsste schon schwimmen, Harry.«
»Ist das so…«
»Ja, das ist so tief!«
Harry Stahl schwieg. Er wollte erst aus seiner Position sehen, was sich da getan hatte. Auch er musste das Wasser sehen. Es hatte sich praktisch bis zu ihm ausgebreitet oder durchgekämpft. Vielleicht würde es bald um seine Füße schwappen. Auf der neuen Oberfläche sah der Nebel aus, als hätte er sich dort festgekrallt. Oder es würde Dampf aus dem Wasser steigen.
Harry hatte sich wieder einen Stock besorgt. Er schwebte über den Boden hinweg, als sich mein Freund drehte und plötzlich mehrmals in eine bestimmte Richtung stieß.
»John, da kommt was auf die Insel zu!«
»Was denn?«
»Keine Ahnung, echt nicht. Es sieht fast aus wie ein kleines Ungeheuer.«
Ich lief an eine andere Stelle, um besser sehen zu können - und musste meinem deutschen Freund Recht geben, Da kam tatsächlich etwas. Es schwamm noch unter Wasser mit geschmeidigen Bewegungen weiter.
Es war kompakt und zugleich gestreckt. Und es hielt sich noch in den tieferen Regionen auf, in denen das Wasser dunkler war als weiter oben.
Ein Mensch?
Von der Körperform hätte es ein Mensch sein können. Aber wenn ein Mensch schwamm, bewegte er Arme und Beine. Das war bei diesem hier nicht der Fall. Da schlingerte der Körper nur von der Hüfte aus abwärts bis zu den Füßen.
Ich war geschockt und gespannt zugleich. Hielt auch den Atem an und wartete darauf, dass dieses Wesen endlich die Insel erreichte. Das war ihr Ziel und nichts anderes.
Es drehte sich jetzt. Bisher hatte ich nur auf den Rücken geschaut, und nun sah ich die Vorderseite.
Hell, durch die Wellenbewegungen natürlich verzerrt. Aber die Gestalt hatte ein Gesicht, lange Haare und den Oberkörper einer Frau, der plötzlich so nah an die Insel herangekommen war, dass er aus dem Wasser stieß.
Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück, und dabei weiteten sich meine Augen.
Es war wie im Märchen. Mit einer letzten geschickten Drehung hatte es die Frau geschafft, das Ufer zu erreichen. Sie hockte sich hin, stützte sich mit ihren Armen auf, sorgte allerdings dafür, dass der Rest ihres Oberkörpers im Wasser blieb.
Das reizte mich zum Hinschauen.
Zum Glück war das Moorwasser an der Oberfläche nicht trübe, sondern eher klar. Ich konnte hineinschauen und hätte eigentlich auch die Beine der Person sehen müssen, wenn sie welche gehabt hätte.
Aber es gab sie nicht.
Sie besaß keine Beine.
Dafür hatte sich von der Hüfte abwärts eine schuppige Flosse oder ein Fischschwanz gebildet, und mir war klar, dass ich hier einer echten Nixe gegenüberstand…
***
Es war nicht unbedingt ein Schock für mich gewesen, wohl eine Überraschung, und die hatte ich recht schnell überwunden. In meinem Job wurde man damit des Öfteren konfrontiert.
Den unteren Teil des Körpers ließ ich außer Acht. Für mich war der Oberkörper wichtig und natürlich auch der Kopf mit dem Gesicht. Die Nixe war aus dem Wasser gekommen, und das perlte in langen Bahnen über den Oberkörper hinweg. Es fand seinen Weg über die bleichen, nicht allzu großen Brüste mit den dunklen Warzen. Es rann aus den langen Haaren, die ein feingeschnittenes Gesicht mit leicht schräg stehenden Augen umgaben, und es bildete schließlich dort kleine Pfützen, wo sich die seltsame Person aufgestützt hatte.
Nixen haben grüne Augen!
So war die landläufige Meinung, aber das traf in diesem Fall überhaupt nicht zu. Als ich einen Blick in die Augen warf, da sah ich die dunklen, zu den Haaren passenden Pupillen. Hier saß auf keinen Fall eine Lorelei vor mir.
Ich erinnerte mich in diesem Augenblick an die Rheinnixen, die ich ebenfalls schon kennen gelernt hatte und die mit der Mystikerin Hildegard von Bingen in Verbindung gestanden hatten. Diese Nixe hier war anders.
Ich wusste nicht, woher sie kam. Ich kannte ihren Namen nicht, aber ich konnte mir vorstellen, dass
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