1164 - Die Wolfsfrau
wir uns in Doleham. Gibt es dort ein Gasthaus?«
»Ich habe zwei gesehen. Eines davon heißt Swamp.«
»Alles klar, dann warte dort auf uns. Falls etwas passiert oder sich verändert, ruf bitte über Handy an.«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
»Und gib auf deinen Kopf Acht.«
»Jetzt schon, John.«
Damit war unsere Unterhaltung beendet und ebenso mein Schlaf. Ich würde keine Ruhe mehr finden können und war mir irgendwie sicher, dass mich der Zufall oder das Schicksal auf die Spur des verdammten Vampir-Galans geführt hatte.
Die Zeit für eine Dusche gönnte ich mir. Ernst danach rief ich nebenan bei Shao und Suko an, um meinen Freund auf seinen neuen Job vorzubereiten…
***
Werwölfe denken zwar nicht wie Menschen, doch es gibt gewisse Gemeinsamkeiten, und genau das hatte Alice Carver erkannt.
Das Geschoss war dicht an ihrem Kopf vorbeigeflogen, und sie hatte es als einen Hauch des Todes eingestuft. Das war keine normale Kugel gewesen. Sie hatte eine Ausstrahlung gehabt, die auch vernichten konnte.
Alice war irritiert gewesen und hatte sogar Furcht bekommen. So blieb ihr nichts weiter übrig, als die Flucht zu ergreifen, und das dunkle, einsame Gelände bot ihr dafür alle Chancen.
Sie dachte über den Mann mit der Waffe nach. Es waren normale menschliche Gedanken, die sie dabei beschäftigten, obwohl sie das Aussehen einer Bestie besaß. Natürlich kämpfte sie auch gegen ihre wilden Gefühle, gegen die Gier, gegen die Lust am Töten an, denn es gab in der Umgebung keine Beute für sie. Die Tiere des Waldes hielten sich versteckt, als sie mit langen Sprüngen durch die Dunkelheit hetzte und schließlich den Wald verließ. Schließlich lag das Hochmoor vor ihr, das auch durch eine um diese Zeit leere Straße geteilt wurde.
Trotzdem war die Wölfin vorsichtig geworden. Sie hatte sich in den Graben geduckt. Die Schnauze stand offen. Sie atmete hechelnd und wartete darauf, dem Trieb nachgeben zu können.
Sie hatte Pech. Als flache Welt lag das Hochmoor vor ihr. Selbst die zahlreichen Büsche und Gräser wurden von einem Teil der Dunkelheit verschluckt, und über ihr am Himmel schickte der Mond seinen kalten Schein nach unten.
Alice Carver konnte nichts für ihr Schicksal. Es hatte sie erwischt. Sie verwandelte sich einmal im Monat in eine Werwölfin. Alle vier Wochen. Ein verdammter Rhythmus, den sie nicht beeinflussen konnte. Er hatte sie auch nicht von Kind auf erwischt. Erst als erwachsene Frau war dieses Schicksal auf sie zugekommen, und nun kam sie davon nicht mehr los.
Sie hatte sich damit abgefunden. Nicht grundlos war sie aus der Stadt weg in das einsame Haus im Wald gezogen. Als Bibliothekarin war sie relativ unabhängig.
So primitiv das Haus auch wirkte, Alice hatte dafür gesorgt, dass es mit den modernen Kommunikationsmittel eingerichtet worden war. Auf den ersten Blick sah es niemand, aber es gab eine Treppe, die unter das Dach führte, wo die Computer aufgestellt waren, die sie benötigte.
Der Job war vergessen, ebenso wie die Verwandtschaft. Alice hatte nichts gegen ihre Schwester.
Die »Kleine« war ihr lieb und teuer, aber sie wollte nur nicht, dass sie sich in einen Teil ihres Lebens einmischte, denn das wäre für Judy lebensgefährlich geworden. Rücksicht kannte Alice nicht.
Judy war gewarnt worden. Wahrscheinlich zu intensiv. Sonst wäre sie nicht mit diesem Mann zurückgekehrt, der eine so gefährliche Waffe bei sich trug.
Nach der Flucht hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Auch hier an der Straße zeigte er sich nicht. Das leere dunkle Band führte an ihr vorbei. Es kam aus der Dunkelheit, und es verschwand wieder in der Dunkelheit.
Trotzdem sah sie die Lichter. Sie gehörten zu Doleham, dem gottverlassenen Straßendorf inmitten des Hochmoors. Nur wenige Lichtflecken durchbrachen die Dunkelheit, und alle wirkten irgendwie verloren, als wären sie nur ein Traum.
Die Dunkelheit und die Ruhe taten ihr gut. Sie sah keine Feinde, aber auch keine Opfer. Dabei waren sie nicht weit entfernt. Schlafende Menschen, an die sie sich heranschleichen und die sie überfallen konnte. Es war also alles ideal, und dennoch traute sich Alice nicht an sie heran.
Der Mann mit der Waffe würde ebenso denken wie sie. Wahrscheinlich strich er bereits wie ein räudiger Köter um die Häuser und lauerte darauf, dass sie ihm vor die Mündung lief.
Genau das wollte die Wolfsfrau nicht riskieren. Aber sie wollte auch nicht wieder zurück in ihr Haus. Das war für die nächste Zeit tabu. Sie
Weitere Kostenlose Bücher