1172 - Die Macht des Kreuzes
Rücksicht.
Bevor mich die Hände auch irgendwie streifen konnten, erwischte ihn meine Rechte. Sie bohrte sich in seine Magengrube. Ich hörte ihn aufstöhnen, dann wankte er zurück und fiel fast über seinen Schreibtisch hinweg. Im letzten Moment konnte er sich an der Kante festhalten und sich abstützen.
Sein Mund stand weit offen. Durch ihn atmete er schwer. Gierig saugte er immer wieder Luft ein. Er bewegte dabei die Augen. Seine Zunge schlug über die Lippen hinweg nach draußen, und eine Hand hielt er gegen die getroffene Stelle gepresst.
»Verdammt, Sinclair, was haben Sie getan?«
»Es war nur zu Ihrer Sicherheit.«
»Scheiße war das. Hier kommen wir nicht weg!« Er saugte wieder Luft ein. »Warum hilft uns denn keiner von außen? Warum holen Sie uns nicht weg…?«
Darauf wusste ich keine Antwort. Es war auch keine Zeit für Überlegungen, denn wieder war es Glenda Perkins, die mich auf die Veränderung aufmerksam machte.
»John, ich werde nicht verrückt, aber ich weiß, was ich sehe. Ich will es nur von dir bestätigt haben. Bitte, schau dir noch mal die Fenster an.«
Glenda verfiel nicht so leicht in Panik. Wenn sie mich warnte, dann hatte es einen Sinn.
Auf die Fenster hatte ich in den letzten Sekunden weniger geachtet.
Jetzt schaute ich wieder zu einem hin. Es lag in der Nähe - und ich sah das Gesicht im Licht!
Ja, es war ein Gesicht!
Das Gesicht einer jungen Frau, die auch als Teenager hätte durchgehen können. So klar, so engelhaft, voller Unschuld, wenn man in die Augen schaute.
»Und jetzt weiter, John. Das nächste Fenster!«
Mein Blick glitt nach links.
Da war das Licht - und da war das Gesicht.
Ich konnte keinen Kommentar geben, denn Glenda zwang mich dazu, mich zu drehen.
Ich sah sie, aber ich nahm sie nicht wahr, denn mich interessierten die beiden Fenster hinter ihrem Rücken.
Auch sie waren mit Licht erfüllt. Aber das war nicht alles. Wie in den beiden zuerst gesehenen auch sah ich zwei Mal die Umrisse eines einzigen Gesichts.
Das Fazit war einfach und doch erschreckend.
Emily White gab es vier Mal!
***
Jemand wie Mirko fand keine Ruhe. Er war mit dem Zirkus verbunden und verwachsen. Sein ganzes Leben lang. Er hatte schon beim alten Winter gearbeitet, einem sehr strengen Menschen, für den nur die Leistung gezählt hatte. Dabei machte er auch keine Unterschiede, ob der Mitarbeiter nun Artist war oder Helfer. Bei ihm zählte das, was die Menschen für den Zirkus leisteten. Jeder musste auf seinem Fleck und bei seinem Job das Beste bringen.
Mirko war übernommen worden. Er kam mit dem neuen Boss ebenfalls gut zurecht, sogar so gut, dass die beiden ein Vertrauensverhältnis bekommen hatten.
Oft genug saßen sie zusammen und sprachen über die kleinen und großen Probleme im Zirkus. Mirko wusste aufgrund seines Alters manchen Rat, und er war es auch, der mit den Panthern zurechtkam.
Sie mochten ihn. Auch, weil er oft genug zusammen mit Harold Winter beim Training zugeschaut hatte. Er war für die Tiere verantwortlich. Er fütterte sie. Er sprach mit ihnen, und er hatte sie auch aus der Manege wieder in die Käfigwagen geholt.
Es war nicht viel passiert. Sein Boss hatte einige Kratzer abbekommen, die er bestimmt verschmerzen konnte. Mirko regte nur auf, dass überhaupt etwas passiert war. Dass es so weit hatte kommen können. Aber er war alt genug, um zu wissen, dass es Dinge im Leben gab, die er nicht beeinflussen konnte. Dazu musste man dann Schicksal sagen. So etwas lehrte eben das Leben.
Auch dagegen wehrte sich der Mann. Er nahm einfach nicht unbedingt als Schicksal, was in der Nacht geschehen war. Nicht als objektives Schicksal, wie er sich dachte. Für ihn war es ein subjektives, und er hatte ihm auch einen Namen gegeben.
Emily White!
Er kannte sie. Sie war jedem hier im Zirkus bekannt. Den älteren Mitarbeitern schon seit dem Babyalter. Über die Jahre machte er sich keinerlei Gedanken, nur über die Person selbst, die Mirko hier im Zirkus hatte aufwachsen sehen.
Er war ihr nie nahe gekommen. Er hatte sich von ihr fern gehalten.
Mal ein kurzer Gruß, verbunden mit einem Lächeln, ein paar belanglose Worte, das war eigentlich alles gewesen.
Aber er hatte sie nicht aus den Augen gelassen und sie aus einer gewissen Ferne beobachtet. Er hatte ihr zugeschaut, er hatte erlebt, wie sie von Mrs. Winter zur Schule geschickt worden war und später Privatunterricht bei der Chefin erhalten hatte, und ihm war Emilys zirkusfremdes Verhalten und Wesen nicht
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