1188 - Wartesaal zum Jenseits
an.«
»Ja.«
»Und du hast keine Angst davor, dass sie endgültig stirbt?«
Ich lächelte knapp. »Wird sie das denn, wenn sie eine Heilige ist, Glenda?«
»Weiß nicht.«
»Ich glaube nicht daran. Wenn sie auf unserer Seite steht, wird sie es schaffen. Obwohl ich davon nicht überzeugt bin, denn das Licht aus meinem Kreuz hätte Boris Long nicht so verbrannt.«
»Es sei denn, er wäre ein Schwarzblütler gewesen.«
»Genau.«
»War er das nicht?«, fragte Glenda. »Ich bin inzwischen so weit, dass ich alles in Frage stelle. Das mag dir zwar ungewöhnlich vorkommen, aber so denke ich mittlerweile. Außerdem wissen wir zu wenig über Marga. Aber das kann sich ändern.«
Bevor Glenda ging, riet ich ihr noch, Tessa mitzubringen. Sie hatte ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihrer toten Mutter tatsächlich geschehen war.
»Ja, die Idee ist gut.« Glenda nickte. »Ich hoffe, dass sie mitspielt. Es wird Zeit für mich.«
»Musst du weit gehen?«
»Hier im Dorf?« Sie lachte. »Das auf keinen Fall. Ich bekomme die Dinge schon in den Griff.«
»Ja, bis dann…«
Sie ging, und auch Suko winkte ihr zu, bevor er das Grab umrundete und an meine Seite kam.
»Mit Heiligen«, sagte er, »hatten wir bisher nicht zu tun. Oder siehst du das anders?«
»Nein, das sehe ich nicht.«
»Sagt man nicht auch, dass manche Menschen komische Heilige sind?«
»Genau. Nur finde ich das hier nicht komisch.« Ich deutete auf das Skelett. »Boris Long ist verbrannt. In einem Licht und nicht in einem Feuer. Wir haben doch sehen können, wie er zerschmolz. Oder seine Haut. Das ist einfach grauenhaft. Das passt zudem nicht zu einer Heiligen.«
»Bleibt die andere Seite, John.«
»Oder eine dazwischen.«
»Ja, das auch.«
Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, ob wir noch immer allein auf dem Friedhof waren. Zu sehen war kein weiterer Besucher. An diesem grauen Novembertag wollte niemand dieses Areal besuchen, und das war auch gut so.
Wenn Zeugen das erlebt hätten, was wir gesehen hatten, wären sie vielleicht wahnsinnig geworden.
So aber konnten wir voll und ganz unserer Aufgabe nachgehen und zudem hoffen, dass man uns auch in der Zukunft allein ließ.
Die Feuchtigkeit hatte zugenommen. Eine winzige Tröpfchenbildung in der Luft hatte die Klarheit vertrieben, und es war zu den ersten feinen Dunstschleiern gekommen, die sich in der Luft regelrecht festgesetzt hatten. Der Turm der Kirche war nicht mehr so klar zu sehen. Er sah aus, als wollte er sich hinter dünnen Tüchern verstecken. Auch durch das blattlose Geäst der Bäume trieb der leichte Dunst und drehte sich zu Spiralen zusammen.
Suko hatte seinen Platz am Kopfende des Grabs gefunden. Von dort aus schaute er auf die Leiche.
»Nimmst du das Kreuz?«
»Was sonst?«
»Okay. Dann wird Licht gegen…«
Das letzte Wort rutschte ihm nur noch halb aus dem Mund, denn etwas Unheimliches passierte, womit wir nie gerechnet hätten. Nicht die Frau bewegte sich, sondern die andere Person - das Skelett…
***
Sie schrie!
Die Figur schrie tatsächlich, und ihr Schreien hörte sich an wie das eines normalen Menschen, auch wenn es nicht so laut klang, aber für die beiden Zuhörer ebenso schlimm war.
Ben Clemens war von diesen Schreien ebenso überrascht worden wie Tessa. Er tat nichts, sie bewegte sich ebenfalls nicht und schaute nur auf diese Figur, die für sie zu einem Zerrbild des Schreckens geworden war, weil sie sich so stark verändert hatte. Und das von einem Augenblick auf den anderen. Es hatte dabei kein äußeres Ereignis gegeben. Keiner der beiden konnte sich die Schuld zusprechen, denn sie hatten nichts getan und auch keinen Angriff gestartet.
Von ganz allein…
Der Schrei blieb.
Aber er veränderte sich. Hatte er zuvor noch schrill und spitz geklungen, so hörten sie jetzt die Wut daraus hervor und auch den Schmerz. Es war für beide schrecklich, dies durchmachen zu müssen, denn so wie die Heiligenfigur schrie nur jemand, der unter großen Schmerzen litt.
Dann kippte der Schrei weg!
Von einem Moment auf den anderen hörte er auf. Nichts mehr drang an ihre Ohren. Eine schon für sie schlimme Stille breitete sich innerhalb des Wohnzimmers aus. Beide hielten den Atem an, bis Tessa nicht mehr konnte. Sie ging zur Seite und ließ sich in den Sessel fallen, schluchzend und die Hände dabei gegen die Brust gepresst und zu verkrampften Fäusten geballt.
Sie war sprachlos. Dem Geistlichen erging es ebenso. Er war totenbleich geworden.
Er schaute Tessa
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