1192 - Schamanenkult
wäre dieser ein Rettungsring.
Taylor war in seinem Element. Er hatte sich in einen archaischen Typen verwandelt und seinen Platz an Bills linker Seite gefunden. Von dort wollte er zuschlagen, um Bill zu enthaupten.
Er holte weit aus.
Bill dachte nichts mehr. Sein Kopf war plötzlich leer. Nur der warme Schädel lag noch auf seinen Händen, als wäre er ein besonderes Geschenk.
Er würde das Pfeifen hören, wenn der Stahl die Luft zerschnitt. Aber nur für einen kurzen Moment, dann würde ihn die Klinge treffen. Vielleicht ein Zupfen am Hals, aber sicherlich keine Schmerzen mehr.
Bill dachte komischerweise daran, ob sein Gehirn noch für eine gewisse Zeit weiterleben würde.
Möglicherweise konnte er noch denken, und auch etwas sehen und mitbekommen, wenn sein Kopf auf dem Boden lag.
Warum schlug Taylor nicht zu?
Er war so davon überzeugt gewesen, aber jetzt tat er nichts. Bill schielte nach rechts. An seiner Haltung hatte sich nichts verändert. Trotzdem war mit Taylor etwas geschehen.
Er blickte zur Tür hin, die nicht geschlossen war. Etwas musste in dem anderen Raum passiert sein.
Bill hörte nichts. Es konnte auch sein, dass sein Gehör geschädigt war.
In dem Augenblick als Avery Taylor einen Zischlaut ausstieß, erschien eine kleine Gestalt in der offenen Tür. Der alte Mann war aus Sibirien gekommen, um in London an einem Kongress der Schamanen teilzunehmen. Doch jetzt hatte er eine andere Aufgabe übernommen. Er wirkte trotz seiner geringen Körpergröße wie ein Riese, und seine Stimme klang laut und deutlich.
»Du wirst ihn nicht töten!«
***
Darauf wollte Bill sich nicht verlassen. Er war jedoch noch froher, als sich hinter Mongush Suko und John in den Raum hineinschoben. Auch Sheila sah er, die allerdings nichts sagte und ihre Hände gegen die Lippen presste, als sie Bills Lage sah.
»Du wirst ihn nicht töten!« wiederholte der Schamane seinen Befehl. »Du nicht!«
Es war eine Situation, in der die Spannung für alle förmlich spürbar war. John und Suko hatten ihre Berettas gezogen. Sie zielten auf den Mann mit der Machete, der nach wie vor erstarrt war.
Mongush ging weiter.
In seinen Augen stand ein Ausdruck, den man sogar mit dem Begriff Licht umschreiben konnte. So etwas hatte Bill bei ihm noch nicht gesehen. Das war schon- verrückt und irgendwie nicht von dieser Welt. Als hätten ihm die Geister der Toten diesen hypnotischen Blick verliehen, der auch Taylor bannte.
Er tat nichts.
Er stand ebenso starr auf der Stelle wie auch Bill Conolly.
Der kleine Schamane blieb stehen. Er war in seine alte Decke eingewickelt und wirkte wie ein Toter, der nach zwei Tagen als faltiger Zombie wieder aus seinem Sarg gestiegen war.
Aber in dem Menschen steckte eine Kraft, die schon einmalig war.
Mit fester Stimme gab er seinen nächsten Befehl. »Du wirst die Waffe jetzt fallen lassen!«
Niemand sprach danach. Selbst das Atmen schienen die Anwesenden eingestellt zu haben.
Sheila hatte ihre Arme wieder sinken lassen. Ihr fiebriger Blick wechselte zwischen ihrem Mann und Taylor hin und her.
Taylor bewegte sich. Er stöhnte. Er zitterte. Sein Gesicht war in Schweiß gebadet. In ihm kämpften zwei Seelen. Auf der einen Seite hatte er sich an die unheimliche Macht der Druiden angebiedert, auf der anderen musste er merken, dass es etwas gab, das noch stärker war.
Dann bewegte er sich. Und er bewegte auch seine Machete. Aber nicht auf Bill Conolly zu, sondern in eine andere Richtung. Er ließ die Waffe sinken.
Es passierte sehr langsam. In Etappen. Zuckend. Tiefer und tiefer sank die Machete, bis sie ungefähr seine Bauchhöhe erreicht hatte. Da streckte Mongush seine Hand aus.
»Halt!«
Taylor stoppte.
Mongush schaute ihn an. »Unwürdige Menschen sollten sich nicht die Mühe machen und andere Welten und Reiche erforschen. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, wenn man die Chance hat. Du hast sie gehabt, aber du bist den falschen Weg gegangen. Du wirst nie mehr in deinem Leben den richtigen finden. Das weiß ich. Da kenne ich mich aus. Du wirst für die anderen Menschen stets eine Gefahr sein, und genau das möchte ich nicht. Ich will nicht in Verruf gebracht werden, denn auch ich zähle mich zu den Schamanen. Deshalb wirst du jetzt das tun, was für alle am besten ist…«
Avery Taylor sagte nichts. Er wartete auf die nächsten Worte des Alten. Der schaute ihn zunächst nur an. Er brannte seinen Blick in die Augen des Mannes.
»Weil das alles so ist«, sagte Mongush mit fester Stimme,
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