12 Stunden Angst
Blick in ein anderes Universum, unendlich weit entfernt von dem Absurdistan, in dem sie jetzt festsaßen. Warren verfolgte Beth mit Blicken, als wollte er sie aufhalten, doch er sagte nichts. Laurel beobachtete, wie Beth eines von Grants Miniatur-Skateboards nahm – »Tech Decks« wurden sie genannt – und anfing, das fünf Zentimeter lange Board über den Glastisch zu schieben. Nachdem das Mädchen abgelenkt war, blickte Laurel über die Insel hinweg zu Warren, bis er keine andere Wahl hatte, als Blickkontakt herzustellen.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise zu ihm. »Alles, was ich dir angetan habe. Und alles, was ich dir nicht angetan habe. Ich möchte es wiedergutmachen. Sag mir, was ich tun kann, Warren.«
Er starrte sie an wie ein Mann, der vergessen hat, wie man redet. Seine blutunterlaufenen Augen suchten ihr Gesicht ab – vielleicht nach einem Hinweis, was sie in diese Situation gebracht hatte. Seine Wangenmuskeln zuckten, und er schluckte mit sichtlicher Mühe. Laurel erkannte, dass er stark dehydriert war. Er war seit Stunden nicht mehr auf der Toilette gewesen und hatte nichts getrunken. Sein linker Mundwinkel war gerötet, und siemeinte die knospenden Bläschen eines Ausbruchs von Herpes zu bemerken – bei Warren ein Symptom für extremen Stress.
»Ich hole dir Wasser«, erbot sie sich. »Und Ibuprofen.«
Zuerst reagierte er nicht. Dann rieb er sich über den Mund und sagte: »Eiswasser.«
Als Laurel sich zum Waschbecken umdrehte, rief Beth unvermittelt: »Christy! Dad, es ist Christy!«
Die Corgi-Hündin war vor einiger Zeit verschwunden, wahrscheinlich verängstigt durch das Dröhnen von Dannys Helikopter, doch jetzt war sie wieder zurück und kratzte an der Hundeklappe wie ein verhungernder Bettler.
»Darf ich sie reinlassen, Daddy?«
»Nicht jetzt.«
»Bitte, Daddy!«, bettelte Beth. »Bitte, bitte, bitte! «
Während Laurel ein Glas mit Leitungswasser füllte, überraschte Warren sie, indem er nachgab. »Also schön«, sagte er. »Wahrscheinlich ist sie halb verhungert.«
Laurel hörte, wie Beth die Hundeklappe entriegelte, und dann scharrten Christys Klauen über den Hartholzboden.
»Sie hat etwas im Maul!«, sagte Beth. »Es ist eine Tüte, Daddy. Was da wohl drin ist?«
»Fass sie nicht an!«, rief Warren. »Sie ist schmutzig.«
Laurel drehte sich um, als wäre sie unter Wasser. Sie wusste, bevor sie es sah, dass Christy die Walgreens-Tüte hinter der Hecke gefunden hatte. Ihr Überlebensinstinkt trieb sie zu der kleinen Hündin, doch es war bereits zu spät, die belastenden Beweise zu vernichten.
»Ich werfe es weg«, sagte sie, doch Warren hatte Christy die Tüte schon aus dem Maul genommen.
Als er sie öffnete, wurde der Impuls, aus dem Haus zu fliehen, für Laurel beinahe überwältigend, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Warren schaute in die Tüte. Ein verwirrter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Christy muss die Mülltonne umgeworfen haben«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass sie das schafft.«
Laurel fühlte sich wie eine Comicfigur, die hilflos nach oben starrt, während ihr von einer hohen Klippe herunter ein riesiger Felsbrocken entgegensaust. Sie war Zoll für Zoll genauso dumm wie Wile E. Coyote …
»Wasch dir die Hände, Beth«, hörte sie Warren sagen. Dann ging er zum Müllkompaktor, öffnete ihn mit dem Fuß und warf die Walgreens-Tüte hinein. »Nimm das Waschbecken in der Pantry.«
»Aber meine Hände sind sauber, Dad!«, protestierte Beth und streichelte Christys Rücken, während der Hund geräuschvoll aus seinem Napf fraß.
»Geh schon!«
Beth sprang auf und verschwand in der Pantry.
Laurel stand wie angewurzelt vor der Kücheninsel. Ein Nachmittag während ihrer Collegezeit fiel ihr ein, als ein Blitz keine fünfzehn Meter von ihr entfernt einen Baum gespalten hatte. Die Luft rings um sie her schien in Flammen aufgegangen zu sein, und sie hatte in den Ozon-knisternden Nachwehen gestanden wie die Überlebende eines Bombenangriffs, zu benommen, um dankbar für ihr neu gewonnenes Leben zu sein.
»Was ist mit meinem Wasser?«, fragte Warren.
Laurel blickte auf das Glas in ihrer Hand. »Oh.« Sie reichte es Warren. Ihre Finger zitterten.
»Ich schätze, ich muss mir selbst Eis holen«, sagte er und ging zum Eisschrank.
»Oh … tut mir leid.«
Als er das Glas unter den automatischen Eisspender schob, wurde ihr bewusst, dass der Hund, anstatt ihre Vernichtung zu bewirken, möglicherweise ihr Retter war. Der Plan war riskant,
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