12 Stunden Angst
dir sein, Kleine. Bis vor fünf Minuten lautete der Plan, ›er oder wir‹. Aber jetzt … jetzt heißt es nur noch, ›er oder Kyle‹, okay?«
Ein aufkeimender Hoffnungsschimmer. »Wie meinst du das?«
»Ich weiß es noch nicht genau, Baby. Ich muss nachdenken.«
Nell zitterte am ganzen Leib. Vida nahm ihre Hand. »Wie wäre es damit? Was immer heute geschieht, ich bringe Kyle dazu, zum Haus der Shields zu fahren und die Sachen rauszuholen, die er dort versteckt hat.«
»Versprichst du es?«
»Ja.«
»Heute?«
Vida tätschelte Nells Knie. »Heute.«
»Aber was ist, wenn Dr. Shields zu Hause ist? Oder seine Frau?«
»Oh, Kyle ist clever genug, dass er es holen kann, auch wenn die beiden zu Hause sind.«
»Aber wo sind die Sachen? Was für Sachen überhaupt? Ich weiß überhaupt nichts!«
Die Härte kehrte in Vidas Gesicht zurück. »Das ist auch nicht nötig. Ich sage dir nur, wo die Sachen sind. Die Shields haben so einen Sicherheitsraum unter der Treppe, hast du das gewusst?«
Nell schüttelte den Kopf.
»Wie in diesem Film mit Jodie Foster, nur nicht so raffiniert. Du weißt schon, wo man sich vor einem Tornado in Sicherheit bringt, oder wenn jemand ins Haus einbricht. Alle reichen Leute haben so was.«
»Ich erinnere mich, dass Mama uns in eine Besenkammer gesteckt hat, wenn ein Tornado kam«, sagte Nell.
»Das war ich, nicht Mama. Mama war meistens viel zu betrunken, um sich wegen eines Tornados den Kopf zu zerbrechen.«
Scham und Liebe ließen Nell erröten.
»Denk nicht darüber nach«, sagte Vida. »Jedenfalls, Kyle war vergangenen Samstagabend im Haus der Shields, als alle im Kino waren. Er hat die Sachen hinter ein paar Konserven versteckt. Aber hör jetzt auf, dir Gedanken zu machen. Ich kümmere mich um Kyle und sorge dafür, dass deinem Freund nichts geschieht. Dass er so sicher ist, wie man mitten in diesem Chaos sein kann. So sicher wie du und ich.«
Nell zwang sich zu einem Lächeln. Es war besser als nichts – das Beste, was sie den Umständen nach erwarten konnte.
Vida beugte sich vor und umarmte ihre kleine Schwester. Ihre Haare stanken nach Zigarettenrauch. »Du bist so ein liebes Ding«, sagte sie mit mütterlichem Stolz. »Du wirst schon sehen, alles wird wieder gut. Alles wird gut.« Sie nahm den Kopf ein wenig zurück und zwinkerte Nell zu. »Wenigstens eine von uns verdient ein Happy End, nicht wahr?«
Nell war nach Weinen zumute, doch sie hielt die Tränen zurück.
Vida erhob sich und trat zum Fenster des Schalters, um ein Formular von einem Patienten entgegenzunehmen, während sie in Gedanken bereits ihren nächsten Schachzug überlegte. Nell beneidete Dr. Auster nicht um sein nächstes Zusammentreffen mit Vida. Sie konnte zur Bestie werden, wenn sie wütend war – furchteinflößender als die meisten Männer.
Nell rollte auf ihrem Stuhl zurück zum Computer, doch je länger sie auf den Bildschirm starrte, desto mehr schwand ihre anfängliche Erleichterung. Die Dinge bewegten sich zu schnell – und zugleich nicht schnell genug. Was, wenn die Behörden heute etwas unternahmen? Was, wenn sie das Haus von Dr. Shields durchsuchten, bevor Dr. Auster dorthin fuhr und die belastenden Beweisstücke entfernte? Konnte sie sich leisten, so lange zu warten? Konnte sie überhaupt darauf vertrauen, dass Auster tat, was er tun sollte, selbst wenn Vida es versprochen hatte? Die Antwortdarauf war ein entschiedenes Nein. Warren Shields’ Zukunft durfte nicht in den Händen seines treulosen Partners liegen. Sie musste selbst einschreiten.
Nach einem raschen Blick auf Vida loggte Nell sich in ihren Hotmail-Account ein und begann zu schreiben.
Tausend Meter über der Stadt wies Danny seine Flugschülerin an, die Cessna nach Norden zu schwenken, weg vom Mississippi. Sie waren seit vierzig Minuten in der Luft, hauptsächlich im Süden der Stadt, doch Danny wollte wissen, ob noch immer beide Fahrzeuge vor dem Haus der Shields parkten. Laurel hatte auf seine letzte SMS nicht geantwortet, und er sorgte sich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, die Textnachricht zu schicken.
Ein schlimmer Fehler.
»Soll ich den ganzen Weg bis nach Fort Adams fliegen?«, fragte Marilyn Stone, eine einheimische Rechtsanwältin, die seit Jahren davon geträumt hatte, fliegen zu lernen.
»Nein, wir nehmen unsere übliche Strecke. Wenn Sie über Avalon sind, fliegen Sie eine S-Kurve über der Belle Chêne Plantage, bevor wir zum Flugfeld zurückkehren.«
Marilyn nickte, den Blick auf den
Weitere Kostenlose Bücher