12 - Tod Bei Vollmond
empfundenen Strafen wie Tod, Verstümmelung und Versklavung verfolgt. Wohingegen die Brehons im irischen Bretha Nemed festlegten, wenn ein Mann eine Frau gegen ihren Willen küßte, er ihren ganzen Sühnepreis an sie zahlen mußte. Versuchte ein Mann, eine Frau zu vergewaltigen, so drohte ihm ein Bußgeld von einundzwanzig Kühen.
Die Wahrheit genoß vor dem Gesetz einen besonderen Stellenwert. Nach dem Bretha Nemed wurde der Sühnepreis an das Opfer gezahlt, wenn man jemanden fälschlich des Diebstahls bezichtigte oder ihn verleumdete und ihn so in Schande brachte. Daher konnte er gut verstehen, warum Fidelma den Gerber so eindringlich warnte.
Lesren ließ sich davon nicht abschrecken.
»Was ich gesehen habe, das ist wahr. Frag Goll, den Holzfäller, wenn du mir nicht glaubst. Frag ihn, warum er mir ein Bußgeld in Höhe eines silbernen screpall zahlen mußte. Ich werde erst wieder etwas über den Fall sagen, wenn ihr das mit ihm geklärt habt.«
»Ein screpall ist nicht gerade viel«, murmelte Eadulf.
»Es war ein Verstoß gegen das Gesetz, ganz gleich, wie hoch das Bußgeld war«, fuhr ihn der Gerber an.
»Und welcher Brehon hat das Bußgeld erhoben?« wollte Fidelma wissen.
»Aolú.«
»Aolú ist tot«, fügte Accobrán leise hinzu.
Fidelma seufzte ungeduldig. »Stimmt es, daß du die Verbindung deiner Tochter mit Gabrán nicht gutheißen konntest wegen der Sache mit seinem Vater Goll und dem Bußgeld?«
Wieder schob Lesren angriffslustig sein Kinn vor. »Das reicht doch.«
»Wie hat Beccnat darauf reagiert, daß du ihre Beziehung zu Gabrán abgelehnt hast? Sie war siebzehn und damit alt genug, allein ihre Wahl zu treffen. Sie hatte das Recht, ihre Zukunft selbst zu bestimmen.«
Lesrens Gesicht verfinsterte sich. »Sie war meine Tochter. Sie lehnte meine Meinung ab, und was ist daraus geworden? Wenn sich nur Escrach nicht von Gabrán abgewandt hätte, dann hätte er meiner Tochter nicht nachgestellt.«
»Escrach?« Fidelma musterte ihn aufmerksam. »Was meinst du damit?«
»Gabrán bemühte sich um sie, doch Escrach wollte nichts von ihm wissen. Ich habe meine Tochter davor gewarnt, ihn zu ermutigen.«
»Wenn die Töchter alt genug sind, selbst zu wählen, haben sie auch Rechte«, erinnerte ihn Fidelma.
»Töchter haben auch Pflichten«, erwiderte der Gerber wütend. »Ich sah mich gezwungen, Beccnat zu züchtigen, wenn sie nachts nicht zu Hause schlief. Ihre letzten drei Nächte verbrachte sie auswärts. Nun, ich hatte Angst, daß ihr etwas zustoßen könnte, was ja dann auch passierte. Und Gabrán hat schuld.«
»Du bist recht dickköpfig, Lesren«, mischte sich jetzt Accobrán ein. »Gabrán war überhaupt nicht in der Nähe, als deine Tochter starb. Ganz gleich, was du Gabráns Vater anzulasten suchst, die Zeugen sagen etwas anderes aus. Und mal abgesehen von deiner Meinung, du kannst Escrachs und Ballgels Tod Gabrán nicht auch noch in die Schuhe schieben. Warum sollte er sie umgebracht haben?«
»Um das zu erreichen, was ihm offensichtlich bei dir gelungen ist … Dich von seiner Spur abzubringen. Es aussehen zu lassen, als würde ein Verrückter hier sein Unwesen treiben. Daran glaube ich nicht. Und ich werde es bei jeder Gelegenheit wiederholen. Gabrán hat meine Tochter getötet.«
»Aber warum? Aus welchem Grund sollte er das getan haben? Sie wollten heiraten.« Fidelmas Stimme war ruhig, doch ihre Fragen trafen mit ihrer Logik genau ins Schwarze.
Lesren starrte sie an.
»Warum?« wiederholte er langsam, als sei ihm diese Überlegung neu.
Fidelma blieb hartnäckig. »Er wollte Beccnat heiraten. Trotz deiner Einwände, wie man mir erzählt hat. Weshalb sollte er sie umbringen?«
Lesren zögerte kurz, er schien seine Gedanken zu ordnen.
»Weil«, sagte er leise, »weil sie mir einige Tage vor ihrem gewaltsamen Ende gesagt hat, sie wolle mich und ihre Mutter nicht weiter beunruhigen und würde Gabrán nicht heiraten. Sie fühlte sich von ihm nur benutzt, und er sei nicht der passende Ehemann für sie. Dann ging sie fort und kehrte nie mehr zurück. Sie wollte Gabrán mitteilen, daß ihre Beziehung beendet sei. Darum hat er sie ermordet.«
K APITEL 5
Inzwischen hatte sich eine Frau neben Lesren gestellt. In ihrer Jugend mußte sie recht hübsch gewesen sein. Obwohl ihr schwarzes Haar graue Strähnen zeigte, trugen ihre hellen Augen, ihre makellose Haut und ihre ganze Erscheinung keine Spuren des Alters. Sie wirkte bedrückt. Lesren machte keine Anstalten, sie vorzustellen, Fidelma
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