122 - Der Geisterwolf
sich das Mädchen zu. Sei froh, daß du noch lebst! Mach das Beste daraus!
Sie fingerte am Schloß herum, während der Wagen mit hoher Geschwindigkeit unterwegs war. Wohin würde Douglas sie bringen? Sie drängte den Gedanken, was sie am Ziel dieser Fahrt erwartete, zurück.
Tony Ballard hatte ihr beigebracht, niemals aufzugeben, die winzigsten Chancen zu erkennen und zu nützen. Das wollte sie tun. Sie gab sich noch lange nicht geschlagen.
Da sie das Schloß mit den Fingern nicht aufbekam, tastete sie ihre Umgebung nach einem brauchbaren Werkzeug ab.
Da war ein Kreuzschlüssel, Zu groß und nicht geeignet für das, was Vicky vorhatte. Sie tastete weiter und fand ein Abschleppseil und ein Warndreieck, aber nichts, womit sie das Schloß hätte aufsprengen können.
Mr. Silvers Magie hätte das Kofferraumschloß geöffnet, doch die konnte nur er einsetzen. Sie war ihm angeboren. Man konnte sie nicht erlernen.
Spencer Douglas ließ London hinter sich. Er fuhr die Themse entlang stromabwärts. Sein Ziel befand sich hinter einem dichten, düsteren Wald: eine alte, verfallene Mühle, deren riesige Flügel wie ein gewaltiges X aufragten und sich schon lange nicht mehr drehten.
Unweit von hier gab es den Landsitz einer adeligen Familie. Auch die alte Mühle gehörte zu deren Besitz, doch die Farringtons kümmerten sich nicht mehr um sie.
Man hatte beschlossen, sie dem Verfall preiszugeben, anstatt viel gutes Geld für Renovierungsarbeiten auszugeben, nur um eine Mühle zu erhalten, die niemand mehr brauchte.
Es kam billiger, ein Schild anzubringen, auf dem stand: »Achtung? Einsturzgefahr! Betreten verboten!«
Damit war man aus dem Schneider und konnte das Geld anderweitig ausgeben. Zum Beispiel für einen Maskenball, zu dem Lord Delbert Farrington heute eingeladen hatte, Vicky Bonney fiel auf, daß der Wagen langsamer fuhr und schließlich stehenblieb. Ein leichtes Vibrieren erfaßte sie, als der Motor verstummte.
Für einige Augenblicke war nichts zu hören. Quälende Sekunden vertickten. Vicky wagte kaum zu atmen. Gespannt wie eine Feder lag sie da und lauschte.
Jetzt bewegte sich Spencer Douglas. Das Fahrzeug ächzte leise. Vicky hörte, wie die Wagentür aufschwang und Douglas ausstieg. Dann vernahm sie knirschende Schritte, die auf das Fahrzeugheck zukamen.
Gleich würde sich der Kofferraumdeckel öffnen…
***
Die Schmerzen hatten ihm die Besinnung geraubt, und sie weckten ihn wieder. Er stöhnte, und sein schweißnasses Gesicht war von einem unkontrollierten Zucken befallen.
Er erinnerte sich, daß er telefonieren wollte, und seine tastenden Hände suchten den Apparat. Der Hörer lag daneben. O’Hara nahm ihn auf und stellte sich den Apparat auf die Brust.
Er kippte ihn, um die Tasten zu sehen und wählte den Polizeinotruf, doch die Leitung war tot. Als das Telefon auf den Boden knallte, mußte in seinem Inneren irgend etwas kaputtgegangen sein.
Mühsam richtete er sich auf. Jede Bewegung war von starken Schmerzen begleitet. Es ging beinahe über seine Kräfte, aufzustehen, aber er mußte etwas gegen die Schmerzen tun, und er mußte die blutenden. Wunden versorgen.
Torkelnd wie ein Betrunkener verließ er das Wohnzimmer, Er schleppte sich nach oben und wankte ins Bad. Als er in den Spiegel blickte, erschrak er.
War das noch er? Wieso hatte er sich verändert?
Noch ahnte er nicht, daß er den Wolfskeim in sich trug. Für gewöhnlich dauerte es länger, bis ein Mensch nach einer Verletzung zum Werwolf wurde, aber dies war eine besondere Nacht, und die Wunden waren so tief, daß die Entwicklung sich wesentlich schneller vollzog.
Bruce O’Hara öffnete den Medikamentenschrank. Mit Händen, die noch nie so stark behaart gewesen waren, suchte er nach schmerzstillenden Tabletten, Er schüttelte drei davon in seine hohle Hand und warf sie sich in den Mund. Dabei stellte er fest, daß sich sein Gesicht weiter verändert hatte.
Was ist los mit mir? fragte er sich und wankte zum Spiegel zurück. Die Veränderung war fortgeschritten. Er hatte jetzt überall Haare im Gesicht, und sein Mund wurde immer mehr zur Schnauze.
Er konnte diese entsetzliche Ungeheuerlichkeit nicht verstehen, aber er begriff, daß er sich mehr und mehr in ein Tier verwandelte, In einen Wolf!
Er wußte, was ein Werwolf war, und er brüllte unglücklich auf, als ihm klarwurde, daß er sich in ein solches Monster verwandelte. Er erinnerte sich an den Moment, als er die Küche betreten hatte, Claudette hatte das rohe Fleisch in der
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