124 - Die weisse Frau vom Gespensterturm
Henry
Parker-Johnson von seinem Beschützer Larry Brent der an der Wand draußen vor
dem Schlafzimmer stand und von den Ereignissen überrascht wurde. X-RAY-3 verlor
keine Sekunde. In dem Moment als die Tür ins Schloss fiel, handelte er. Er
hatte versprochen, seinen Schützling nicht aus den Augen zu lassen. Das wollte
er auch einhalten. Er schlug blitzschnell wieder die Klinke herunter und stieß
die unverschlossene Tür nach innen. Larry stürzte ins Schlafzimmer und ließ die
starke Stablampe aufflammen.
Der
Lichtstrahl riss die beiden Himmelbetten aus dem Dunkeln. Sie waren leer. Von
Harriet McGill und ihrem Vater war weit und breit nichts zu sehen. Der Boden
schien beide verschluckt zu haben ...
●
Er hatte auf
diese Begegnung gehofft. Doch jetzt, als es dazu kam, glaubte er zu träumen.
Alles, was er sich für diesen Moment vorgenommen hatte, war vergessen. Martin Bernauer
stand da, als wäre jeder Lebensfunke in ihm erloschen. Er konnte die Gestalt
nur ansehen und war unfähig, nach der Kamera zu greifen und den Verschluss
abzulösen.
Lady Myra ...
die Weiße Frau!
Es gab keinen
Zweifel: Das war sie! Sie war nur zwei Schritte von ihm entfernt, hoch
aufgerichtet und schlank. Gehüllt in ein enganliegendes, durchsichtig wirkendes
Kleid und von einem kränklich-blassen Licht umflossen, schien ihr Körper aus
sich heraus zu strahlen.
Sie war
wunderschön. Das Haar war schwarz und seidig wie die dichte Mähne eines edlen
Pferdes. Ihre weiße Haut war makellos rein, und ihre großen Augen blickten
dunkel wie reife schwarze Kirschen. Sie hatte ein schmales, faszinierendes
Antlitz, sanft und weiblich wie das eines Engels. Sie lächelte. Es war ein
Lächeln, das alles versprach, und Martin Bernauer merkte, wie es ihm
abwechselnd heiß und kalt wurde. Dann wandte sie sich um und verschwand um die
Ecke, ohne dass auch nur ein einziges Wort über ihre Lippen kam.
Bernauer
erwachte im gleichen Augenblick wie aus einem tiefen Traum, und er war nur noch
von einem Wunsch beseelt: er musste und wollte sie Wiedersehen, wollte hinter
das Geheimnis der Weißen Frau vom Gespensterturm kommen. Seine Gefühle waren
völlig durcheinander. Er wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte über
sein Glück, dass er sie gesehen hatte, oder über sein Pech, dass sie ohne ein
Wort zu sagen wieder gegangen war.
Er lebte, es
war ihm nichts geschehen! Alles, was man sich über sie erzählte - ihre
Grausamkeit, ihre angebliche Gefährlichkeit, dass sie Männer in den Turm lockte
und tötete gehörte ins Reich ausufernder Phantasie! Bernauer gab sich einen
Ruck und sprang nach vom. Er erreichte die Türschwelle und sah. wie die Weiße
Frau über die steile, scharf gewundene Treppe nach oben schwebte. Ja, schweben
war der richtige Ausdruck. Sie berührte mit ihren kleinen, nackten Füßen nicht
die Steine. Der Student lief hinter der Gestalt her. Er war schnell, aber es
gelang ihm nicht, sie einzuholen. Die schöne, geheimnisvolle Lady Myra war und
blieb ihm immer zwei Schritte voraus.
Die Kamera!
Ich muss fotografieren, schoss es ihm fiebernd durch den Kopf. Er riss das
Objektiv an die Augen und betätigte mehrmals hintereinander den Auslöser der
automatischen Kamera. Hoffentlich funktionierte es ...
Erjagte über
die Treppe nach oben, spürte sein Herz bis zum Hals klopfen, und sein Körper
fühlte sich heiß an, als ob er Fieber hätte.
„ Bleib
stehen!", rief er. „ Ich habe viele Fragen an dich. “
Seine Stimme
hallte laut durch den Gang und verwehte. Lady Myra eilte leichtfüßig weiter und
warf keinen einzigen Blick zurück. Nur ihr leises, verwehendes Lachen war zu
hören, und mal kam es Martin Bernauer so vor, als höre er aus weiter Feme eine
lockende Stimme die Worte rufen: „Komm zu mir... komm mit mir... nicht dort
unten ..."
Die Weiße Frau
verschwand um die nächste Gangbiegung. Martin Bernauer merkte, wie er außer
Atem kam, doch er ließ in seinen Anstrengungen nicht nach, forcierte im
Gegenteil noch sein Tempo. Immer höher ging es nach oben. Immer neue
Treppenaufgänge folgten. Bernauer bekam Seitenstechen, und er musste eine Pause
einlegen. Schwer atmend lehnte er gegen die kühle, feuchte Wand. Die
Taschenlampe in seiner Hand zitterte. Unwillkürlich drehte er den Lichtkegel
nach außen, so dass der Strahl in die schwindelerregende Tiefe fiel. Er
schätzte, schon mehr als hundert Stufen gegangen zu sein. Und noch immer war
der Weg nicht zu Ende.
Ich muss
weiter, trieb er sich an. Ich darf sie
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