1256 - Belials Bann
Zeit bekam sie ihre Probleme. Sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie lange sie schon auf dem Sessel hockte. Da wurden aus wenigen Sekunden schon Minuten und sie merkte auch, dass sie zu schwitzen begann, aber sie traute sich nicht, die Lederjacke auszuziehen. Die Waffe steckte griffbereit, die Jacke stand offen, und sie war bereit, sofort zu reagieren.
Die Luft um sie herum veränderte sich nicht. Nach wie vor empfand Karina sie als überklar und rein.
Als wäre sie für dieses Studio bewusst künstlich hergestellt worden.
Auch in den nächsten Minuten passierte nichts. Karina merkte, wie sie allmählich leicht verkrampfte, trotz der lässigen Haltung.
Sie wollte sich bewegen, stand auf und zog die Jacke aus, die sie neben den Stuhl auf den Boden legte. Dann nahm sie wieder Platz. Das heißt, sie wollte es, aber sie hielt mitten in der Bewegung und schon leicht in den Knien eingeknickt inne.
Sie hatte etwas gesehen. Die Bewegung war in den Kulissen entstanden. Es war ihr nicht möglich gewesen, sie genau zu erkennen, doch sie wusste jetzt, dass sie nicht allein war, abgesehen von John Sinclair.
Sie hatte kaum wieder Platz genommen, als sich die Gestalt deutlicher zeigte und für sie zu erkennen war.
Aus dem Düstern einer dieser Gänge zwischen den Kulissen heraus trat eine Frau. Sehr jung, sehr blond, auch kaum bekleidet, mit einem freien Oberkörper.
So kannte sie Karina, die junge Heilerin aus dem Fernsehen. Nur dass sie sich in den Sendungen nicht so offenherzig zeigte wie hier. Das hatte etwas zu bedeuten.
Bekleidet war sie eigentlich nur mit einem Wickelrock, aber sie hatte einen Schal um den Hals gedreht, dessen breite Vorderseite wie ein dunkles Band nach unten hing und dort aufhörte, wo der Rocksaum begann. Auf dem Schal malten sich helle Totenköpfe ab. Bestimmt kein Symbol für die Heilungen. Eher für das Gegenteil.
Es war so weit. Die Schau konnte beginnen. Und irgendwie fühlte sich Karina erleichtert. Nachdem sie die erste Überraschung verdaut hatte, hielt sie Ausschau nach einer weiteren Gestalt, aber der von John beschriebene Engel der Lügen war nicht zu sehen.
Tamara brauchte nur noch rund eine Schrittlänge, um die Sitzgruppe zu erreichen. Bevor das der Fall war, drehte sie sich noch kurz zur Seite, so dass Karina einen Teil ihres Rückens sah. Genau dort malte sich etwas ab!
Zuerst wusste sie nicht, was es war. Zwei dunkle, sogar recht kantige Gegenstände, aber die bewegten sich plötzlich für einen Moment auseinander, und so erkannte sie jetzt, dass es sich bei den Dingern auf dem Rücken um Flügel handeln musste. Flügel wie ein Engel!
Genau das war es!
Plötzlich hatte sie das Gefühl, der Dinge nicht mehr Herr zu werden. Dass sie es bei Tamara auch mit einem Engel zu tun gehabt hatte, das hätte sie nie gedacht. Für sie war die Frau wohl ein ungewöhnlicher Mensch, aber mit Flügeln oder Schwingen auf dem Rücken? Da hatte sie schon ihre Probleme damit, und sie fragte sich plötzlich, ob sie als Mensch stärker war als dieser Mensch-Engel.
Tamara setzte sich in den Sessel neben dem der Russin. Aus der Nähe sah sie noch jünger aus. Sie konnte bestimmt nicht älter als zwanzig sein, das stand für sie fest. Aber von dem jugendlich wirkenden Gesicht durfte sich Karina nicht täuschen lassen, der Blick in die Augen vermittelte ein ganz anders Bild.
Sie lebten nicht. Sie waren und blieben starr. Und sie waren so gut wie farblos. Karina hatte das Gefühl, hier ein künstliches Augenpaar zu sehen, das aus glatt geschliffenen und hellen Kristallen bestand.
Karina sprach die junge Heilerin nicht an. Sie wollte warten, bis Tamara etwas sagte und genau das geschah auch.
»Du bist ja doch gekommen.«
»Klar.«
»Ich wusste es.« Sie lächelte. »Ich wusste es von Beginn an. Und ich wusste auch, dass du keine normale Frau bist, sondern jemand, der hinter mein Geheimnis kommen will.«
»Das ist gut möglich«, gab Karina zu und schärfte sich ein, nur ruhig zu bleiben und sich keine Blöße zu geben.
»Aber du kannst mich nicht stoppen. Ich bin gekommen, um mein Ziel zu erreichen.« Sie spielte mit ihren Händen. Es war zu sehen, dass sie sehr lange und schmale Finger hatte.
Eine Frage brannte Karina Grischin auf der Zunge. Sie musste sie unbedingt loswerden. »Bist du es gewesen, der den Moderator so brutal ermordet hat?«
Die Heilerin lachte. »Traust du mir das zu?«
»Ja.«
»Nein, ich hole mir meine Kraft anders. Es gibt jemand, der mich beschützt und
Weitere Kostenlose Bücher