1273 - Poker mit dem Tod
hinter ihm lag. Das konnte er keinem Menschen erzählen, denn niemand würde ihm glauben. Das war einfach zu verrückt. Darüber konnte er nur den Kopf schütteln und lachen. Dass er es nicht tat, lag auf der Hand, denn er hatte schließlich den Schrecken erlebt.
Der Wirt hatte ein Bier vor ihn hingestellt. Er nippte daran, genoss die kühle Flüssigkeit und schaute sich im Spiegel an, der gegenüber an der Thekenwand hing.
Es war ein alter Westernspiegel. Auf seiner Fläche war ein Motiv abgebildet. Es zeigte einen Cowboy mit Stetson. Der Mann hielt einen Colt in der angewinkelten Hand. Aus der Mündung kräuselte ein dünner Pulverdampffaden. Die Lippen waren so gespitzt, dass es aussah, als würde der Mann auf den Faden blasen.
Der Spiegel bot noch genügend freien Platz, damit sich der Gast selbst sehen konnte.
Kid Longo hatte immer auf sein Äußeres geachtet. Er ging davon aus, dass er mit seinen 45 Jahren jünger aussah als die meisten Menschen diesen Alters. Das mochte auch an seinen schwarz gefärbten Haaren liegen, die so dunkel waren wie das Gefieder eines Raben und auch so glänzten. Insgesamt eine völlig unnatürliche Haarpracht, was ihn aber nicht störte. Er hatte die Haare zudem richtig wachsen lassen, um ihnen eine bestimmte Frisur geben zu können. Da er für Elvis geschwärmt hatte, trug er auch über der Stirn die Elvis-Tolle.
Sein Gesicht war schmal, fast knochig. Die Haut war bleich, aber an bestimmten Stellen auf seinen Wangen schimmerte sie immer etwas dunkel, weil sich dort die Bartschatten ausbreiteten. Da half auch ein häufiges Rasieren nicht.
Sein Gesicht hätte auch von einem Karikaturisten erschaffen worden sein können. Die harten Züge, die schmale Nase, der breite Mund mit den Lippen ohne Schwung, und das vorspringende und zugleich eckig wirkende Kinn, das alles gab ihm dieses Aussehen.
Er saß vor seinem Bier, saugte am Mundstück eines dünnen Zigarillos und wollte versuchen, seine Gedanken zu ordnen. Es klappte nicht. Aus den Lautsprechern dudelte Musik, zudem unterhielten sich zwei Männer lautstark an der anderen Seite der Theke und stritten dabei über Fußball.
Der Sport interessierte ihn nicht. Es war Kid wichtiger, die Karten zu kennen. Sie waren sein Schicksal. Manchmal hatte er das Gefühl, als wären sie nur erfunden worden, um sein Leben zu richten. Er trug stets zwei Spiele bei sich, und auch jetzt konnte er die Hände nicht ruhig halten. Er ließ sie in die rechte Tasche seiner schwarzen Jacke gleiten, zu der er ein weißes Hemd und eine dunkelgraue Jeans trug.
Auch wenn er keinen Gegner hatte, spielte er mit seinen Karten. Er brauchte das einfach. Er musste spüren, wie sie durch seine Finger glitten, wenn sie zusammenschlugen und der dabei entstehende Luftzug über seine Handflächen wehte.
Er schob das Bierglas etwas zur Seite und bildete aus den Karten zwei kleine Häufchen.
Die hob er dann ab, brachte sie zusammen, schob sie ineinander und ließ sie eine Brücke bauen, die aber schnell zusammenbrach. Trotzdem kamen die Karten nicht zur Ruhe, denn die gleiche Brücke baute er an der anderen Seite auf.
Sie schnurrten in- und gegeneinander und lagen schließlich so da, wie er sie aus der Tasche geholt hatte. Fein säuberlich gestapelt. Keine Karte lag mit dem Rand über.
»Toll!«
Kid Longo schaute hoch. Er hatte nicht gesehen, dass Alfred, der Wirt, gekommen war. Jetzt stand er vor ihm und nickte. Er war ein großer Mann mit Halbglatze und Bierbauch, der teilweise von einer Lederschürze bedeckt war.
»Wenn du das sagst, Alfred.«
»Hast nichts verlernt, wie?«
»Nein.«
»Zeigst du die Kunststücke immer noch?«
Der Wirt wusste nicht, womit Longo tatsächlich sein Geld verdiente. Er war der Meinung, dass er als Kartenkünstler auf Kindergeburtstagen auftrat und die Gesellschaft der Kleinen ins Staunen brachte. Tatsächlich hatte Longo das früher mal getan, und er war auch bei größeren Gesellschaften ein gern gesehener Gast gewesen, aber das hatte ihm nicht so viel eingebracht wie das Pokerspiel, und deshalb hatte er sich ganz darauf spezialisiert.
»Weniger.«
»Warum denn?«
Longo zuckte mit den Schultern. »Weißt du, Al, wir beide sind nicht mehr die Jüngsten. Bei dir ist es egal, du kannst deinen Job noch lange machen, aber ich bekomme immer mehr Konkurrenz, und ich bin ehrlich genug, um mir einzugestehen, dass die anderen Typen besser sind als ich. Noch flinker, noch geschickter, und da habe ich mich etwas aus dem Geschäft
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