1288 - Das unheimliche Mädchen
Plötzlich sah wieder alles ganz anders aus. Ich hielt eine noch sehr junge Frau in den Armen, die meiner Ansicht nach mit ihrem Schicksal selbst nicht zurechtkam.
Ewig konnten wir hier nicht bleiben. Ich fragte sie leise: »Sollen wir nicht besser gehen?«
Sie drückte ihren Kopf etwas von mir weg. »Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.«
»Dann komm mit.«
Eine Antwort erhielt ich nicht, und so übernahm ich die Initiative und machte mich mit ihr auf den Rückweg.
Ich war von unserem Parkplatz weggefahren und hatte an einer anderen und ähnlichen Stelle angehalten, an der kein Traktor stand. Bevor wir weiterfuhren, wollte ich noch mit ihr reden, denn das war ich ihr einfach schuldig.
Sie hatte bisher nicht gesprochen. Wie ein kleines Kind saß sie neben mir. Der Schein der Sonne schien schräg in unseren Wagen hinein. Es hätte ein wunderbarer Tag sein können, hätte es da nicht die Probleme gegeben, die zwischen uns standen.
Gabriela sagte nichts. Sie wirkte erschöpft, und manchmal strich sie über ihr Gesicht. Hin und wieder zwinkerte sie mit den Augen. Das konnte am hellen Schein der Sonne liegen, die schräg gegen unsere Frontscheibe schien.
»Können wir jetzt sprechen?«, fing ich an.
»Was soll ich denn sagen?«, flüsterte sie zurück.
Ich war schon froh, dass sie mir eine Antwort gegeben hatte. »Das wird sich ergeben, Gabriela. Ich werde dir meine Fragen stellen, und du wirst versuchen, mir eine Antwort zu geben.«
»Wenn ich kann.«
»Bestimmt.«
»Gib mir ein Taschentuch, John.«
Das bekam sie, schnäuzte die Nase und hielt das Tuch zusammengeknüllt in der rechten Hand. Sie tupfte sich noch über die Augen und drehte mir den Kopf zu. Ich empfand die Geste als positiv und zugleich als einen Beweis beginnenden Vertrauens.
»Ich möchte mich entschuldigen, John.«
»Nein, nein«, sagte ich lachend. »Das brauchst du nicht. Keine Entschuldigung, bitte.«
»Ich habe dein Vertrauen missbraucht. Ich habe dir wehgetan. Ich hätte dich töten können.«
»Das ist vergessen.«
Die Antwort gefiel ihr nicht. »Ich glaube dir nicht. So etwas kann man nicht vergessen…«
»Das bist nicht du gewesen«, machte ich ihr klar. »Das war etwas anderes, Gabriela.«
»Was denn?«
»Etwas, das in dir steckt. Wogegen du dich nicht wehren kannst. Es ist dein Schicksal.«
»Andere zu töten?«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, was ich in mir habe, aber ich fürchte mich davor. Ich hätte es ja fast getan, doch dann kam etwas, das ich nicht begreifen kann. Es hat mich praktisch zur Flucht getrieben.« Sie sprach nicht mehr weiter und sah mich auch nicht an, sondern schaute ins Leere. Sie wirkte wie jemand, dem zahlreiche Gedanken durch den Kopf strömen, der aber nicht in der Lage ist, sie zu ordnen.
»Was hat dich in die Flucht getrieben, Gabriela?«
»Du«, flüsterte sie schließlich und nickte dabei vor sich hin. »Ja, du hast mich in die Flucht getrieben. Aber ich kann es nicht begreifen. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es ist für mich auch jetzt noch ein großes Rätsel. Ich habe damit meine Probleme, aber etwas hat mich… nun ja, etwas hat mich zur Flucht gezwungen.«
»Ich?«
Sie schaute mich noch genauer an und ließ ihren Blick von meinem Gesicht nach unten wandern.
»Das kann ich dir nicht genau sagen, da wiederhole ich mich. Plötzlich war da etwas vorhanden, das ich nur als eine Gegenwehr bezeichnen kann. Da baute sich was auf, und es hat mich davon abgehalten, dich weiterhin zu würgen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Vielleicht.«
Gabriela antwortete nicht auf meine Bemerkung. »Ich bin schlapp geworden. Der andere Widerstand hat mich so werden lassen. Ich wusste, dass ich fliehen musste und rannte in den Hang hinauf, um mich zu verstecken. Irgendwann konnte ich nicht mehr weiter. Da habe ich mich hingesetzt, um mich auszuruhen. Mir war plötzlich alles egal. So hast du mich auch gefunden. Du glaubst nicht, wie froh ich gewesen bin, als ich deine Stimme hörte. Da fühlte ich mich irgendwie von einem Druck befreit. Das Gefühl habe ich irgendwie noch jetzt.«
»Das sehe ich dir an.«
Ihr Gesicht hatte wieder einen entspannten Ausdruck angenommen. Der Schrecken schien vergessen zu sein, und sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Was ist da passiert? Das Feuer kam nicht durch. Ich spürte es in mir, aber es konnte sich nicht befreien. Es war nur die Hitze, die durch meinen Körper tobte, aber nichts brannte. Verstehst du?«
»Hättest du denn das Feuer
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