1288 - Das unheimliche Mädchen
widersprechen. Dann aber senkte sie den Kopf und deutete ein Nicken an. »Ja, im Prinzip hast du Recht. Da steckt etwas in mir, das ich nicht begreifen kann. Es ist schlimm, ich weiß es. Ich will es auch nicht… ach, verdammt, ich will es loswerden. Es ist einfach zu fremd, verstehst du?«
»Das weiß ich.«
»Wie willst du es schaffen?«
»Lass uns aussteigen.«
Sie zögerte noch einen Moment, hob dann die Schultern und öffnete als erste ihre Tür. Auch ich verließ den Wagen und schaute mich sofort in der Umgebung um. So was war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Sehr deutlich sah ich, dass uns die Nonnen beobachteten, auch wenn sie weiterhin ihrer Arbeit nachgingen und das schon von den Bäumen gefallene Laub zusammenharkten.
Als wir auf die breite Eingangstür des kompakten Baus zugingen, ließ man uns ebenfalls in Ruhe. Es gab einen Klingelknopf im Mauerwerk und eine altmodische Glocke. Ich entschied mich für die Klingel.
Erst jetzt fiel mir ein, dass ich etwas vermisste. Es war der Turm einer Kapelle. Wahrscheinlich war das Bethaus innerhalb des Klosters integriert. Das würden wir herausfinden.
Uns wurde geöffnet. Ein rundes Gesicht schaute uns an. Die Augen waren weit geöffnet, und der Mund verzog sich nur allmählich zu einem Lächeln. »Sie sind Gabriela Monti und John Sinclair?«
»Das sind wir«, bestätigte ich und merkte, dass sich mein Schützling gegen mich drückte.
»Ich bin Schwester Carina und leite hier das Kloster. Seien Sie willkommen.« Sie streckte uns die Hand entgegen, die ich ergriff. Nach mir kam Gabriela an die Reihe. Sie zögerte dabei, und es sah fast so aus, als wollte sie die Hand wieder zurückziehen.
Dann griff sie doch zu. Sie schaute der Frau dabei in die Augen. Zu einem Lächeln konnte sie sich nicht entschließen.
Die Oberin gab den Weg frei. Sie war eine recht kleine Frau, aber ziemlich gut im Futter, wie man so schön sagt. Selbst unter der Nonnentracht malten sich die Rundungen ab. Ihr Alter schätzte ich ungefähr auf 60 Jahre.
Wir betraten einen düsteren Bereich, der recht klein war. Es brannten Kerzen vor einem kleinen Altar, und auch an der Decke gab eine Lampe Licht. Die Temperatur war ziemlich kühl, und neben mir schauderte Gabriela zusammen. Wobei ich nicht wusste, ob es nur an der Temperatur lag. Ähnliche Umgebungen kannte sie ja, denn das Waisenhaus war nicht eben eine Hotelsuite gewesen.
»Man hat schon nach Ihnen gefragt«, erklärte uns die Oberin. »Sie scheinen sich verspätet zu haben.«
»Wir haben uns nur Zeit gelassen«, sagte ich und stellte unser karges Gepäck ab. »Wer wollte denn etwas von uns?«
»Ein Signor Corbucci.«
»Ah ja.«
»Er bittet um Rückruf.«
»Gut. Haben Sie hier ein Telefon?«
»Ja, in meinem Büro.« Sie deutete gegen ihre rechte Kopfseite. »Sollten Sie es mit einem Handy versuchen, sage ich Ihnen gleich, dass dies hier nicht möglich ist. Wir haben uns dagegen abgeschottet. Keinem wird es gelingen, von diesem Ort aus mit einem Handy irgendjemanden anzurufen. Auch meine Mitschwestern und ich sind nur Menschen, und die Versuchung lauert ja überall.«
»Das stimmt«, gab ich zu.
»Dann gehe ich zu meinem Büro.«
»Gut.«
Wir ließen sie vorgehen. Neben mir schauderte Gabriela leicht zusammen. »Das ist wie in einem Gefängnis, John, schrecklich. Ich bin vom Regen in die Traufe gekommen.«
»Mit dem einen Unterschied, dass ich jetzt an deiner Seite bin. Das solltest du nicht vergessen.«
Sie drückte kurz meine rechte Hand. »Darüber bin ich auch heilfroh, John.«
Nicht nur die Wände waren dunkel, sondern auch die Türen bestanden aus einem dunklen Holz. Matt glänzten dagegen die Klinken.
Das Büro lag im unteren Bereich, versteckt in einem kleinen Quergang. Die Oberin betrat es und machte Licht. Es war ein kleiner und auch sehr schlicht eingerichteter Raum, in dem ein großes Kreuz auffiel und als einzige Hingabe zur modernen Technik war ein schwarzes Telefon zu sehen. Es stand auf einem Schreibtisch aus dunklem Nussbaum. Für den Raum war er eigentlich zu groß. Wer an ihm saß, bekam das Licht in seinen Rücken, denn dort befand sich auch das einzige Fenster des Büros.
Neben dem Telefon lag ein Zettel. Auf ihm hatte die Frau die Nummer des Anwalts notiert.
»Bitte, Sie können jetzt anrufen.«
Ich übernahm das. Corbucci hatte schon gewartet. Er war froh, meine Stimme zu hören und wollte wissen, warum wir erst so spät an unserem Ziel eingetroffen waren.
»Wir sind langsam gefahren.
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