1292 - Die Blutbrücke
sondern nur noch aus einem Kopf zu bestehen. Alles andere war so kalt und eingeklemmt.
Ich sah nur ihr Gesicht. Es erschien mir so groß. Ich sah die leicht zusammengekniffenen Augen, den kalten Ausdruck in den Pupillen und das diabolische Lächeln.
Was sie mir dann sagte, stürzte mich in den tiefsten Schacht der negativen Gefühle hinein…
***
Angela Finkler konnte nichts mehr sagen. Der Hals saß zu. Sie hatte noch soeben ihre Wahrnehmungen bekannt geben können, dann hatte es auch ihr die Sprache verschlagen, und sie fand sich damit ab, dass es für sie kaum noch eine Rettung gab.
Es war Halloween. Die Toten kamen zurück. Ihre Geister wollten nicht mehr im Jenseits bleiben. Sie hatten es geschafft, die Tore zu öffnen, um an die Lebenden heranzukommen. Ein Albtraum hatte sich in Realität verwandelt. Die Toten kamen wieder, um sich an den Lebenden zu rächen, und zwei Menschen standen im Zentrum, die bisher noch nie so etwas erlebt hatten.
Die fürchterlichsten Gestalten hielten sich im Nebel verborgen. Sie schwangen hin und her, sie breiteten sich aus, und auch der Dunst nahm zu.
Angela merkte erst jetzt, dass sie nicht mehr stand. Sie hatte völlig normal reagiert und sich hingekniet, um so etwas wie einen Schutz zu haben.
Ohne dass es mit ihrem Kollegen abgesprochen worden war, hatte der das Gleiche getan. Auch er suchte so etwas wie eine Deckung, die es auf der Brücke nicht gab. Sie spürten den Druck des Geländers im Rücken und sahen vor sich die Gestalten, die zwar nach ihnen griffen, aber nie richtig zupackten. Bevor es zu einem Kontakt kam, zogen sie die Krallen wieder zurück. Bei einigen von ihnen hingen die Nägel als Fetzen herab.
Nein, das waren keine Gesichter mehr. Möglicherweise wurden sie durch den Nebel noch stärker verzerrt. Da befanden sich die Mäuler auch nicht an der gleichen Stelle. Sie hatten oft genug andere Formen bekommen. Sie hingen schief nach unten, mal nach rechts, dann wieder nach links, und so waren in den Gesichtern regelrechte Löcher zu sehen, aus denen manchmal eine dicke Flüssigkeit hervortropfte.
»Die töten uns, Jens. Die sehen grausam aus. Sie sind… sie sind zu monströs. Da sind welche, die schon…«
»Ruhig, ruhig!«, flüsterte Jens, der sich wunderte, dass er in diesen fürchterlich langen Augenblicken die Nerven bewahrte. Eigentlich hätte er aufspringen und in wilder Panik wegrennen müssen, aber er wusste auch, dass er der anderen Seite nicht entkommen konnte. Wen die haben wollte, den holte sie sich.
Beide wussten nicht, ob man sich an das Grauen gewöhnen konnte. Als auch in der nächsten Zeit nichts passierte, ließ bei ihnen die Anspannung etwas nach. Sie saßen nicht mehr so starr beisammen. Das spürte besonders Jens Rückert, der seinen Arm um Angela gelegt hatte und sie an sich presste. Sie saß nicht mehr so erstarrt, und auch ihr Atem hatte sich leicht beruhigt.
»Wir leben noch«, flüsterte Jens.
Ein kieksendes Lachen drang aus Angelas Kehle. »Und du meinst, dass dies so bleibt?«
»Ich denke schon.«
»Ich nicht…«
Er musste sie trösten, während vor ihnen weiterhin die Gestalten durch den Nebel wallten. »Denk doch mal nach!«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. »Wenn sie uns hätten töten wollen, warum haben sie so lange damit gewartet? Das hätten sie schon längst haben können. Nein, ich glaube nicht, dass sie das vorhaben.«
»Dann nehmen Sie uns mit.«
»Wohin?«
»In ihr Reich. Ins Jenseits. In das Reich der Toten, verstehst du? Dieser Ort ist verflucht, und hier ist alles möglich, das weiß ich, da kannst du sagen, was du willst. Ich… ich… habe die Hoffnung längst aufgegeben.«
Jens Rückert wusste auch nicht, was er dazu noch sagen sollte. Aber er dachte nicht so wie sie. Er versuchte sich einzureden, dass sie einen Film erlebten. Horrorstreifen kannten sie beide. Nur konnten sie hier nicht aufstehen und aus dem Kino gehen.
Angela lehnte an ihren Kollegen. Sie wollte sich aufrechter hinsetzen. Ihr Blick glitt dabei weiterhin nach vorn, und das kam ihr wirklich wie ein Zwang vor. Sie wollte schauen, sie musste es tun, und sie musste sich eingestehen, dass Jens Recht behielt. Es passierte ihnen auch weiterhin nichts. Man wollte sie einfach nur als Zeugen für das, was folgte.
»Psst…«
»Was hast du, Jens?«
»Da war etwas.«
»Und was?«
»Stimmen!«
Angela holte tief Luft. Sie hatte das Gefühl, den Nebel zu trinken und dabei auch Teile dieser geisterhaften Gestalten einzusaugen. »Meinst
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