1344 - Fluchtburg der Engel
sie nicht. Der Dunst hatte sich nicht verflüchtigt. Nach wie vor wallte er vor dem Haus. Die Schwaden trieben dahin. Zu sehen war nicht viel. Die Hecke bildete nur einen schwachen Schatten.
Aber genau dort tat sich etwas!
Zuerst glaubte Linda Dorn an eine Täuschung, denn der Dunst zeichnete ständig andere Figuren. Mit einiger Fantasie konnte man aus ihnen irgendwelche Gebilde erkennen, die auch Menschen glichen. Aber die Gestalt, die an der Rückseite des Hauses stand oder schwebte – so genau war das nicht zu erkennen – war schon echt.
»Komm mal her zu mir, Wilma.«
Sie huschte heran. »Was ist denn?«
»Ich glaube«, flüsterte Linda, »da steht jemand.«
»Was? Wo?«
»Unten.«
Beide Frauen konzentrierten sich. Zudem hielt Linda noch den linken Arm schräg nach vorn gestreckt, um ihrer Schwester die Blickrichtung zu weisen.
Sie mussten sich Zeit lassen und versuchen, den bleichen Dunst wegzudenken.
Dann sahen sie es!
Die Augen weiteten sich. Zugleich erkannten sie, was sich dort verändert hatte. In der Nähe des Gestrüpps zeichnete sich die Gestalt deutlich ab.
Ja, kein Tier, das war ein Mensch!
Und genau dieser Mensch bewegte sich lautlos nach vorn und damit auf das Haus zu.
Beide Frauen standen stocksteif. Sie bewegten nicht mal ihre kleinen Finger. Kein Zucken verriet, dass sie überhaupt noch lebten, dafür sahen sie der grauenhaften Gestalt entgegen, für die eine Erdanziehung anscheinend nicht vorhanden war. Sie hob einfach vom Boden ab und näherte sich der Fensterhöhe.
War das noch ein Mensch?
Nein, dem wollte keine zustimmen. Es handelte sich mehr um eine Gestalt mit einem menschlichen Aussehen, auf deren Rücken allerdings etwas wuchs, das die Frauen in Erstaunen versetzte, obwohl sie eigentlich damit hatten rechnen müssen.
Es waren Flügel!
Und Flügel gehörten zu einem Engel, auch wenn der erste Besucher keine besessen hatte.
Die Schwestern verstanden die Welt nicht mehr. Automatisch hatten sich ihre Hände gefunden wie bei kleinen Kindern, die etwas Schreckliches sahen und sich Mut machen wollten.
Im Grau des Dunstes war die Gestalt nicht genau zu erkennen, aber die Frauen sahen schon den nackten Körper, der von grauer Haut umspannt war. Und sie sahen ein Gesicht, das sie nur als eine Fratze bezeichnen konnten.
»Das ist doch nicht wahr«, flüsterte Wilma. Sie merkte nicht mal, dass sie sprach, aber sie zuckte zurück, als sie plötzlich die heftige Bewegung der Flügel mitbekam und die Gestalt durch diese Kraftanstrengung steil in die Luft stieg.
Es war noch ein Rauschen zu hören, dann hatten die Dunkelheit und der Dunst das Wesen verschluckt.
Eine Sekunde später war von ihm nichts mehr zu sehen, aber es dauerte wesentlich länger, bis die Schwestern wieder in der Lage waren, zu sprechen.
»Hast du gesehen, was auch ich gesehen habe?«, fragte Linda stockend.
»Habe ich, Schwester.« Wilma löste ihre Hand aus dem Griff der Schwester. »Das ist nicht nachvollziehbar, aber wir haben uns nicht getäuscht. Er hat Flügel gehabt. Es muss ein Engel gewesen sein.«
Linda lachte leise, obwohl ihr danach nicht zumute war. »Aber Engel sehen anders aus, denke ich. Nicht so schrecklich und grauenhaft. Das aber ist ein Monster gewesen.«
»Ich glaube auch.«
Linda Dorn holte tief Luft. »Dann gibt es eben unterschiedliche. Auch böse.«
»Nein, das ist…«
»Doch, du hast ihn gesehen!«
Wilma sagte nichts mehr. Sie wusste ja, dass ihre Schwester Recht hatte. Das wollte sie nicht zugeben. Da streikte sie einfach. Was sie jetzt tat, geschah automatisch. Sie schloss das Fenster, weil sie sich davor fürchtete, noch mal Besuch zu bekommen.
Als sie sich umgedreht hatte, fragte Linda: »Hast du eine Idee, wie es jetzt weitergeht?«
»Nein, die habe ich nicht. In dieser Nacht habe ich zu viele Überraschungen erlebt. Ich habe die Nase voll. Ich will davon eigentlich nichts mehr hören.«
»Das kann ich verstehen.« Linda brauchte unbedingt einen Sitzplatz. Ihre Knie schienen regelrecht aufgeweicht zu sein und so nahm sie auf der Bettkante Platz.
Die Hände stemmte sie zu beiden Seiten des Körpers gegen die Decke – und hörte das Knirschen. Zugleich schrie sie auf und sprang in die Höhe.
»Was hast du?«
»Glas!«, rief Linda. Sie hatte sich gedreht und deutete auf das Bett.
»Unsinn, das ist…«
»Es ist ein verdammtes Glas. Kleine Scherben. Ich habe es gespürt.« Sie betrachtete ihre Handflächen und suchte dort nach blutigen Schnittwunden.
Sie waren
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