136 - Im Schloss der Daa'muren
verlangsamten sich. Über den Tannen stand ein großer Vollmond. In seinem leuchtenden Rund zeichneten sich schwarz gezackte Umrisse ab – die Türme von Graf Tihomirs Burg! Der Junge atmete tief durch. Zehn Minuten noch, vielleicht fünfzehn, dann würde er die Burg in ihrer ganzen düsteren Gestalt vor sich haben.
Ihr eigentlicher Name war Hohe Kolk, aber im Dorf nannte man sie nur Omie Corbi (Tausend Raben). Das kam von der Vorliebe des Grafen für blutige Hinrichtungen. Er ließ die Verurteilten, oder die Reste der Verurteilten, immer zur Abschreckung an den Außenmauern aufhängen. Dies wiederum zog Scharen schwarzer Vögel an; Dohlen, Krähen und Raben. Ihr unablässiges Krächzen war bis ins Dorf zu hören, und so antwortete bald jeder Vasall auf die Frage, wohin er gehe, mit: ›Zu den tausend Raben‹.
Die Burg war ganz neu – Florins Großvater Dumitru hatte noch beim Steineschleppen geholfen, unten vom Fluss her –, und doch rankten sich schon zahllose dunkle Geschichten um sie. Verflucht sollte sie sein, hieß es. Ein Tor zur Hölle. Florin nickte. Wahrscheinlich lag es an der Katze.
Es war Tradition im rumänischen Burgenbau, mit dem Grundstein eine lebende Katze einzumauern. Das sollte Glück bringen und die Mäuse fernhalten. Florins Großvater hatte oft davon erzählt, wie spektakulär und erfolgreich sich das auserwählte schwarze Rabenaas zur Wehr gesetzt hatte. Die Katze war entwischt, und man hatte dann stattdessen ein Zigeunerkind genommen.
Im Dorf mochte man die Zigeuner nicht. Sie waren fremd, sowohl im Aussehen als auch in ihrem Verhalten. Sie wohnten in Wagen, die ihre kleinen zotteligen Pferde über Land zogen, trugen seltsame Kleidung und redeten in einer Sprache, die man kaum verstand. Wenn sie in der Gegend waren, schlugen sie unten am Fluss ihr Lager auf. Florin hatte sich oft hingeschlichen, in lauen Sommernächten, und sie belauscht.
Zigeuner spielten so schöne Musik, und ihre Mädchen waren sehr hübsch. Aber man konnte ihnen nicht trauen. Einmal hatten sie dem Pfarrer alle Hühner aus dem Stall geklaut. Die Bauern waren dann abends mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet zum Fluss gegangen. Seitdem hatte Florin die schöne Musik nicht mehr gehört.
Meister Vasile hasste die Zigeuner. Er glaubte, sie hätten sein Bein verhext und gemacht, dass der Fuß zum Klumpen verwachsen war. Vasile gehörte die Wassermühle am Dorfrand. Er war ein alter brummiger Mann, und er trank viel.
Er war trotzdem nett, denn er gab Florin hin und wieder Arbeit – Säcke schleppen, den Boden der Mühle fegen und beim Ausliefern helfen. Vasile bezahlte dafür, und das war nicht selbstverständlich.
Meistens bekam Florin etwas Mehl. Das brachte er seiner Mutter, dann gab es einen Tag lang warmes frisches Brot. Aber manchmal steckte ihm Vasile auch ein paar Kupferstücke zu, und mit denen konnte man wunderbare Dinge kaufen! Pavel Palibroda, der Krämer, hatte immer ein reiches Sortiment in seinem Laden: Schnüre, Nägel, echten Zwirn – und bisweilen sogar Zuckerkringel.
Daran hätte ich nicht denken sollen! Florin blieb stehen und durchsuchte seine Taschen nach dem Kanten Brot, den er eingesteckt hatte. Er war eigentlich für den Rückweg gedacht gewesen. Doch nun musste er dran glauben.
Florin kaute aus vollen Backen, während er weiterging, und die Wärme in seinem Magen tat ihm gut. Er dachte noch immer an Meister Vasile. Der alte Müller und sein Ochsenkarren hatten dem Jungen das Tor zur Tausend-Raben-Burg geöffnet.
Florin hatte viele Mehlsäcke durch den Burghof getragen, durch die Küche, in die Vorratskammern, und er hatte vieles gehört. Hier und im Dorf. So war er dem Gold der Siebenbürger Sachsen auf die Spur gekommen.
Aber woher er den Weg in den Turm kannte – so genau, als wäre er ihn schon tausend Mal gegangen – daran konnte sich Florin nicht erinnern. Vielleicht hatten die Zigeuner ihn verhext.
***
(Du da! Wo willst du hin?)
(Der Primärrassenvertreter Boogan hat darum gebeten, dass das zweite Wächterobjekt herunter kommt und beim Zerteilen einer Wisaau hilft. Ich möchte mitgehen und Nützliches lernen.)
(Du kannst das Geschehen mental verfolgen. Es ist unerwünscht, dass du den Turm verlässt.) (Ka’lin’eeri war ganz anders zu mir als du, Grao’sil’aana.) (Diese Hüterin hat deinen Mangel an Disziplin und Gehorsam nie beanstandet und ihn dadurch noch gefördert. Ihr ist zu verdanken, dass ich ihn beheben muss.) (Wann werde ich zu Ka’lin’eeri zurückkehren,
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