1382 - Götterfluch
die Lippen gepresst. Nur keinen Laut abgeben. Nur nichts, was gehört werden konnte. So still wie möglich bleiben.
Im Moment erlebte sie nur Stille. Sie war so dicht, so angsteinflößend. Es war für sie schwer, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf brummte es.
Hier oben in der schmalen ersten Etage war es dunkel. Dass sie den Beginn der Treppe trotzdem sah, lag am unten brennenden Licht, das über die Stufen kroch und die untere Treppenhälfte erreichte.
Von den schrecklichen Lauten war nichts mehr zu hören. Aber Rebecca war nicht beruhigt. Da unten musste etwas Grässliches passiert sein, das die Vorstellungskraft eines Kindes sprengte.
Rebecca hätte sich in ihr Zimmer zurückziehen und ins Bett legen können. Einfach die Decke über den Kopf ziehen und dann nichts hören und nichts sehen.
So war sie nicht gestrickt. Man hatte sie anders erzogen. Sie sollte sich nicht ducken, sondern Fragen stellen und auf Antworten hoffen, die sie weiterbrachten. Dass sie dabei nicht von Rückschlägen verschont blieb, war klar, aber die Neugierde war da, auch wenn es hin und wieder Enttäuschungen gab, die man überwinden musste.
Sie wartete noch eine gewisse Weile und zählte dabei bis zehn.
Dann ging sie auf die Treppe zu. Der enge Flur wirkte wie ein schmaler Stollen, was ihr so gut wie kaum etwas ausmachte, denn sie kannte sich in dieser Etage bestens aus.
Trotzdem blieb der Druck bestehen. Die Vergangenheit war nicht so leicht auszurotten. Sie lag zudem nur Minuten zurück, und Rebecca lauerte darauf, dass dort unten wieder etwas passierte und sie einen entsprechenden Hinweis erhielt.
Aber das trat nicht ein.
Über die nackten Füße hatte sie die dünnen Pantoffeln aus Filzstoff gestreift. So konnte sie unhörbar laufen, und auch auf den Stufen der Treppe waren ihre Schritte nicht zu hören.
Das Geländer diente ihr als Stütze. Mit einer Hand hielt sie sich daran fest, während sie sich Stufe für Stufe weiter nach unten tastete, um ihrem Ziel näher zu kommen.
Es war nichts zu hören. Kein Wimmern, kein Schreien. Nicht mal ein scharfes Atmen.
Rebecca erinnerte sich daran, dass sie mit ihrer Mutter auch über den Tod gesprochen hatte, der jeden Menschen irgendwann mal ereilte. Man würde ihn nicht sehen, man würde ihn nicht hören, er kam leise, und wenn er da war, schlug er zu.
Nein, diese Gedanken und Erinnerungen waren zu schlimm.
Rebecca konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der Tod bei ihrer Mutter zuschlug. Das war unmöglich. Nicht schon jetzt, denn sie war noch so jung. Bestimmt keine alte Frau.
Außerdem war ihre Mutter die einzige Bezugsperson in ihrem Leben, denn ihren Vater kannte das Mädchen nicht. Klar, die Mutter wusste über ihn Bescheid, aber sie hatte mit Rebecca nie darüber gesprochen und war entsprechenden Fragen stets ausgewichen oder hatte sie einfach auf ein Später vertröstet.
So hatte das Mädchen in stillen Stunden versucht, sich selbst ein Bild seines Vaters zu machen. Doch obwohl Rebecca mit einer reichlichen Fantasie gesegnet war, wollte es ihr nie gelingen, aus all den Gedanken eine konkrete Figur zu schaffen. Irgendetwas hatte sie immer gestört. Als läge eine Sperre in ihrem Kopf.
Er war auch nie erschienen, um sie zu besuchen. Nur einmal hatte die Mutter gesagt, dass er irgendwann kommen würde und dass man sich nicht darauf freuen sollte.
Das hatte Rebecca nicht begriffen, doch sie würde es sicherlich begreifen, wenn sie älter war.
Jetzt musste sie sich um die Dinge kümmern, die in der Gegenwart passierten.
Zunächst tat sich nichts. Kein Wort, kein Ruf, kein Schrei. Diese für sie schon eisige Stille blieb in dem Haus bestehen.
Sie hatte die letzte Stufe soeben erreicht, da hörte sie wieder etwas. Ein scharfes Flüstern ihrer Mutter. Die Worte verstand sie nicht, aber das Flehen darin war nicht zu überhören, und genau das machte der kleinen Rebecca Angst.
Die Mutter befand sich in Gefahr!
Für sie gab es keine andere Möglichkeit. Jemand war in das Haus eingedrungen und wollte ihrer Mutter etwas Böses.
Das Stöhnen zerriss ihre Gedanken. Kurz danach hörte sie einen furchtbaren Laut, den sie nicht einordnen konnte, der für sie aber so grausam und endgültig war.
Danach war es wieder still.
Das Mädchen wusste nicht, wie es sich verhalten sollte. Die Stille empfand sie als noch schlimmer als vorhin, aber diese hier hielt nicht so lange an, denn sie vernahm gleich darauf ein schleifendes Geräusch unten aus der Küche,
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