140 - Kastell der namenlosen Schrecken
gewartet."
„Ein halbes Jahrtausend", antwortete Dorian betroffen. „Bist du es wirklich? Ich spüre nichts Böses in dir. Sonst würde ich dich töten müssen."
Sie kam näher heran und blieb dicht vor ihm stehen. Ihr Gesicht und ihr Hals waren von vollkommener Ebenmäßigkeit. Sie bewegte sich tatsächlich so, wie es Dorian vor Stunden bei Iris gesehen hatte.
„Einst nannte man mich Roquette", sagte sie. „Und alles, was an Bösem in mir gewesen war, wurde durch diese Bastarde aus mir herausgebrannt und totgepeitscht."
„Roquette", stellte der Dämonenkiller fest. „Ich bin Dorian. Du hast also das unterirdische Verlies verlassen können."
„Ja. Endlich. Ich bin die einzige. Alle anderen sind von dir gebannt worden. Sie toben und verfluchen dich."
„Sollen sie. Leben sie auch - so wie du?"
„Zum Teil. Sie sind untereinander zerstritten. Sie hassen einander, und jetzt, da wirkliches Leben in sie zurückgekehrt ist, flüstern sie sich gegenseitig furchtbare Dinge zu."
„Wie kamst du in dieses Gewölbe, Roquette?" fragte Dorian Hunter.
Roquette, die Schönheit aus der fernen Vergangenheit, besaß den reifen Körper einer etwa dreißigjährigen Frau mit schmalen Schultern, langen Beinen und großen, festen Brüsten. Ganz unzweifelhaft lebte sie; an ihr war nichts Dämonisches. Sie schreckte nicht vor Dorians Silberschmuck zurück und auch nicht von seiner Dekoration aus Knoblauchzöpfen.
„Auf dieselbe Weise, wie viele vor mir und nach mir. Die Reiter der Grafen fingen mich und verschleppten mich nach Le Castellet. Dort waren die Schurken unter sich, und niemand merkte wirklich etwas. Sie führten alle ein höllisches Leben. Und so starben sie auch. Durch Gift, Dolch, Würgeeisen und schließlich durch den Fluch des Mönches."
„Das ist eine lange, schaurige Geschichte", murmelte Dorian. Roquette faßte nach seinen Fingern. Dann glitt ihre Hand suchend an seinem Arm hinauf.
„Ich will dich anfassen", sagte sie. „Es ist so lange her, daß… Es ist eine furchtbare Geschichte.
Jedes Wort ist wahr. Du hast die Zeichen gesehen an den Wänden. Die armen Opfer lenkten sich von ihrem Schmerz ab, indem sie ihre Qualen in den Stein ritzten."
„Du gehst nicht zurück in die Gruft?"
„Nichts auf dieser Welt kann mich dazu bringen. Ich weiß nicht, was die Zukunft für mich bedeutet. Aber ich weiß eines: Das wirkliche Leben ist in mich zurückgekommen. Wie das geschah, das weiß ich auch nicht. Ich bin Roquette Boussague, und wenn du mich von hier wegbringst, werde ich dir alles erzählen."
„Ich bringe dich zu Freunden", entschloß sich Dorian zu sagen. „Aber du darfst ihnen nicht sagen,
woher du
kommst."
„Du wirst mich verstecken?"
„Wenigstens ein paar Stunden lang. Dann sehen wir weiter."
Dorian nahm seine Jacke von den Schultern, zog sein Hemd aus und gab es Roquette. Ihre Finger waren ungeschickt, als sie die Knöpfe in die Knopflöcher einführte. Dorian half ihr und zwang sich, nicht zu sehr von ihrer Schönheit und dem traurigen Lächeln abgelenkt zu werden. Er nahm ihre Hand und sagte: „Wir müssen an einem Wächter vorbei. Dann wirst du Dinge sehen, die dir noch viel fremder sind. Erschrick nicht, es ist alles zu verstehen."
Wieder überraschte sie ihn mit einer Antwort, die er nicht erwartet hatte.
„Es gibt keinen Schrecken mehr für mich. Ich habe alles Schreckliche schon erlebt."
Sie gingen über den Strand und betraten den natürlichen Pfad, der auf dem Kamm des Hügels hinaufführte. Dorian bog nach rechts ab und ging, am Haus vorbei, auf das Loch im Zaun zu.
„Nur unsere Gedanken gab es", erklärte sie langsam: „Sie waren im Schloß eingesperrt, durch den Bann des Priesters. Vor einiger Zeit, ich weiß nicht mehr, wieviel Jahre es her ist, erhielt das Schlößchen einige neue Bewohner. Es waren Blutsauger, die ein ideales Versteck suchten. Sie weckten uns aus einem langen Schlaf, und sie kamen zu uns herein. Aber auch sie konnten den Bann nicht brechen. Bevor sie starben, lehrten sie uns, wie mit Gedanken und Gefühlen Opfer angelockt werden können."
„Vampire also", flüsterte Dorian und bedeutete ihr, still zu sein. Er zeigte auf den Wächter. Sie nickte und folgte ihm, ihre bloßen Füße sicher aufsetzend, zu dem Versteck des Wagens.
„Wohin bringst du mich?" fragte Roquette, als er ihr die Autotür aufmachte und in den Sitz half.
„Zu Freunden. In ein kleines Haus, in dem ich schlafe."
„Hat das Haus Türen und Fenster?"
„Ja. Heutzutage gibt es
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