143 - Rulfan von Coellen
will sie kennen lernen. Und lass alle Dysdoorer zum Ufer rufen. Ich habe eine Medizin dabei, die sie von ihrer Krankheit heilen wird.«
»Medizin gegen Geister?« Haynz schnitt ein ungläubiges Gesicht. »Du sollst dem guten Haynz nicht immer dummes Zeug erzählen, Rulfan von Coellen!«
»Es sind keine Geister, die ihren Willen lähmen, Hauptmann von Dysdoor. Ich weiß, wovon ich rede…«
Am Ufer und auf den Terrassen der Pfahlbauhütten versammelten sich Frauen, Kinder, Greise, Männer, Halbwüchsige – die gesamte Bevölkerung Dysdoors, über dreihundert Menschen. Und Rulfan versuchte dem querschnittsgelähmten Hauptmann zu erklären, dass ein weltweiter Krieg ausgebrochen war, und dass er gegen einen Feind ausgefochten werden musste, der mit Mitteln kämpfte, die jede menschliche Vorstellungskraft überstiegen…
***
Etwas war anders, seit Guur gekommen war. IHRE Stimmen im Kopf waren drängender geworden. Guurs sowieso, aber auch die von Sharan.
Bis zu der Nacht, in der Guur auftauchte, war sie auf einem breiten Strom einer unbekannten Meeresküste entgegen getrieben, so kam es Calundula vor, nun aber schien der Strom sich rasch zu verengen, seine Strömung wurde plötzlich schneller, ja reißend, und das Rauschen eines Wasserfalls rückte mit jedem Tag näher.
Calundula hatte Angst.
Fünf Tage nach Guurs Ankunft brachten sie ein Mädchen aus Coellen nach Marienthal. Es war zierlich, jung und schön und hatte kurzes blondes Haar. Calundula beneidete es. Aber nicht lange.
Von ihrer Ankunft bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages beschäftigten Guur und Sharan sich mit ihm. Im Salon des Jagdschlosses saß das Mädchen den halben Tag und die ganze Nacht auf einem Stuhl. Es zitterte. Der Herr und die Herrin schlichen um es herum, schossen hin und wieder eine Frage ab, schwiegen aber die meiste Zeit. In Wahrheit durchforsteten sie den willenlosen Geist des Mädchens.
Calundula wurde Zeugin dieses Verhörs – teilweise zumindest –, denn ihrer Verantwortung oblag die Gesundheit des Mädchens. Sie hatte dafür zu sorgen, dass Suse von Coellen Wasser, angemessene Nahrung und Medizin erhielt.
Das war ihr Job.
Am Morgen nach seiner Ankunft brachte sie das Mädchen in den Bunker und wies ihm einen Schlafraum zu. Suse wirkte apathisch. Sie war in einen seelischen Zustand geglitten, in dem sie einem Stuhl oder einem schmutzigen Teller glich: Wo immer man sie hinschob, abstellte, niederlegte – widerstandslos ließ sie alles über sich ergehen.
In der folgenden Nacht hatte Calundula eine Verabredung.
Nein, nicht mit einem Stern – mit einem Mann. Mit PXL. Sie trafen sich vor dem Rohbau der Hauptbaustelle. Ein paar Stunden lang saßen sie im Garten des Jagdschlosses neben dem Springbrunnen. Dort küssten sie sich zum ersten Mal. Arm in Arm lagen sie danach schweigend im Gras. Sie küssten sich wieder, betrachteten den Halbmond und die Sterne und küssten sich erneut.
Der Liebeszauber hatte gewirkt. Calundula triumphierte; sie war so glücklich, dass sie sogar die allgegenwärtigen Stimmen in ihrem Hirn vergaß. Irgendwann nach Mitternacht nahm sie PXL mit sich in ihre Schlafzelle. Am Morgen wusste sie, dass sie ihn immer lieben würde.
Drei Tage vergingen. Drei Tage mit neuen Aufgaben für Calundula. Die Königin nannte ihr die Namen von vierzehn Männern und Frauen der Bunkerkolonie Marienthal, um die sie sich mit besonderer Sorgfalt zu kümmern hatte. Das Mädchen Suse und PXL war unter den Vierzehn. Seltsamerweise auch sie selbst.
»Sieben von euch werden mit Muna auf dem Großen Fluss nach Süden reisen«, erklärte Sharan. »Du und zwei andere, ihr werdet mit Guur nach Westen ziehen, über das Meer zu einer großen Insel fahren und auf einem Strom in die Ruinen einer ehemals mächtigen Stadt eindringen.«
Sharan sagte nicht, ob auch PXL zu der Gruppe gehören würde, die mit ihr und Guur zu jener Insel im Meer aufbrechen würde. Auch was mit den drei anderen der vierzehn Erwählten geschehen würde, erwähnte sie nicht. Das kurze Gespräch stürzte Calundula in Verwirrung.
Am siebten Tag nach Guurs Auftauchen und am vierten nach Suses Ankunft gab es viel Arbeit im Kliniksegment des Bunkers. Operationen waren angesagt. Auch Guur und Sharan kamen gleich morgens in den OP-Trakt.
Sie brachten einen Beutel mit vierzehn kurzen, flachen und eigenartig gebogenen Knochenplastiken mit. Die waren schwarz und fühlten sich glatt an. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Calundula, dass es sich um Rippen
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