1446 - Der Eis-Schamane
hatte.
Nur wenige Menschen wussten genau, was mit ihr wirklich passiert war. Und die hielten den Mund.
Natürlich wurde Carlotta auch von den Menschen gesehen, die zusammen mit ihren Tieren die Praxis besuchten, aber diese bemerkten nichts, denn sie trug stets einen weit geschnittenen Kittel, der ihre Flügel verbarg.
An diesem Morgen nicht. Da lagen sie frei und schauten aus den Löchern am Rücken ihres Pullovers hervor. Carlotta war zusammen mit Maxine aufgestanden und wartete auf ihre Rückkehr. Sie freute sich auf John Sinclair, den sie lange nicht mehr gesehen hatte. Wann die beiden zurückkehren würden, das hatte Maxine ihr nicht sagen können.
Carlotta wusste allerdings, um was es ging. Und ihr wollte nicht aus dem Kopf, was Maxine gesehen hatte. War es wirklich ein Vogel gewesen? Gab es überhaupt so große Vögel?
Bestimmt nicht in der normalen Welt, da war sich Carlotta sicher.
Und wenn, dann war es eine Sache, die sie persönlich anging, weil sie sich in gewissen Situationen ebenfalls als Vogel fühlte. Sie konnte sich sogar vorstellen, auf dieses fliegende Monstrum zu treffen, aber darüber hatte sie mit Maxine nicht gesprochen. Die hätte es fertig gebracht und sie eingeschlossen.
So war es zunächst mal besser, wenn sie sich zurückhielt und alles seinen alltäglichen Weg ging, der allerdings anders sein würde, als sie es sich noch vor zwei Tagen vorgestellt hatten.
Es war ja nicht hier in Dundee passiert, sondern draußen in der Einsamkeit. Kilometer entfernt. Eine Strecke, für die man ziemlich lange brauchte, wenn man nicht fliegen konnte, was die Zeit wesentlich verkürzte.
Carlotta rechnete auch damit, dass sie zum Einsatz kam. Der Fall lief darauf hinaus, nur hatte sie es nicht gewagt, mit ihrer Ziehmutter darüber zu sprechen.
Als Maxine das Haus verlassen hatte, war Carlotta in ihr Zimmer gegangen. Eine Tasse mit Tee hatte sie mitgenommen. Sie wollte ihn in Ruhe trinken und aus dem Fenster schauen, das an der Rückseite des Hauses lag.
Ihr Blick glitt in einen großen, übersichtlichen Garten, der im Sommer wunderschön war und in dem Bäume standen, unter denen man wunderbar sitzen und träumen konnte.
Nicht im Winter und auch nicht bei Schnee.
Von Grün war nichts mehr zu sehen. Die weiße Schicht hatte alles unter sich begraben. Die Äste und Zweige der Bäume waren mit einer zuckrigen Kruste bedeckt, die besonders interessant wirkte, wenn sie von den Strahlen der Wintersonne getroffen wurde.
Aber auf die musste Carlotta noch warten. Ihre Ziehmutter war sehr früh zum Flughafen aufgebrochen, da hatte die Dunkelheit noch über dem Land gelegen.
Bald würde sie von der Dämmerung abgelöst werden, und darauf wartete das Vogelmädchen. Carlotta saß so, dass sie durch das Fenster schauen konnte. Das dunkle Grau der Nacht hatte einen leicht bläulichen Farbton angenommen, der sich allmählich aufhellte. Der weiße Schnee tat ein Übriges dazu, und so war es in der Nacht eigentlich nie richtig dunkel geworden.
Eigentlich hätte es für sie langweilig sein müssen, einfach nur durch das Fenster zu schauen. Das war es seltsamerweise nicht. Sie saß da, trank ihren Tee und behielt den Garten auf der Rückseite im Auge, als gäbe es dafür einen Grund.
Und genau darüber dachte sie nach. Es gab tatsächlich einen Grund, denn in ihrem Innern war etwas, das sie nicht loslassen wollte. Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas passieren würde. Es war wie eine innere Unruhe, die sie immer wieder antrieb.
Nicht weggehen. Bleiben und schauen. Hinsehen, ob sich vielleicht etwas tat, ob es zu einer Veränderung kam. Es gab eigentlich keinen Grund, so zu denken. Trotzdem tat sie es, und die innere Unruhe wurde bei ihr auch nicht schwächer.
Was würde passieren?
Nichts zunächst. Nur die Dunkelheit der Nacht verlor den Kampf gegen das Licht des anbrechenden Tages. Die bläulichen Schatten verschwanden, die helle Farbe des Schnees trat deutlicher hervor.
Da die Temperatur in der Nacht noch weiter gefallen war, hatten sich auf der Oberfläche zahlreiche Eiskristalle gebildet, die schon jetzt schimmerten, obwohl sie noch nicht von den Strahlen der Sonne berührt wurden.
Nur allmählich drang der Tag durch. Die Bäume wurden sichtbar.
Scharf hoben sich deren Umrisse vom Hintergrund ab. An den unteren Enden der Stämme bildete der Schnee eine glatte Schicht auf dem Boden, auf der an bestimmten Stellen Spuren zu erkennen waren. Hinterlassen worden waren sie von Tieren, die in der Nacht durch
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