1469 - Der Köpfer holt sie alle!
deutlicher zu erkennen, die bei diesem Anblick die eigentliche Gefahr vergaßen.
Die Eltern und Freunde hatten sich hier versammelt, um eine Gedenkmesse für eine Tote abzuhalten. Aber diese Tote war plötzlich nicht mehr tot. Sie lebte. Sie ging auf zwei Beinen wie jeder normale Mensch, und genau das war nicht zu begreifen.
Niemand sagte etwas. Da mochten einige Münder offen stehen, doch ein Wort brachte keiner hervor. Mit diesem Phänomen musste man erst mal fertig werden. Es war einfach ungeheuerlich, so etwas zu erleben.
Es gab keine Fragen. Es gab keine Kommentare. Nur hin und wieder war ein leiser Schrei zu hören.
Greta und Jeb Abel standen noch immer an derselben Stelle. Sie hielten sich umklammert, um sich gegenseitig Halt zu geben. Was sie da sahen, war einfach ungeheuerlich. Das konnte nicht wahr sein. Ihre Tochter war tot, grausam umgebracht worden, und jetzt ging sie auf lautlosen Sohlen als lebende Person durch die Kirche auf ihren Mörder zu, der sie mit schussbereiter Waffe erwartete.
»Bitte, Jeb, bitte – sag, dass ich mich irre. Das kann nicht unsere Tochter sein. Wir haben doch an ihrem Grab gestanden. Bitte, du musst etwas sagen.«
»Ich weiß es nicht…«
»Was weißt du nicht?«
»Ich kann dir keine Erklärung geben.«
»Und Marietta…?«
»Nimm es hin, Greta«, flüsterte er. »Nimm es einfach als ein Geschenk des Himmels hin. Mehr weiß ich nicht zu sagen. Man hat sie uns zurückgegeben, so ist es.«
»Eine Tote…«
»Was weiß ich.«
Ihnen fehlten die Worte. Sie selbst mussten inaktiv bleiben, denn der Killer würde feuern. Er würde sie brutal zusammenschießen, wenn sie jetzt etwas taten.
Jeb Abel hatte sich etwas besser gefangen als seine Frau. Er konzentrierte sich nicht mehr so sehr auf seine Tochter. Durch das Schielen zu den verschiedenen Seiten hin war es ihm möglich, einige der anderen Besucher zu sehen.
Bei keinem erlebte er eine Reaktion. Sie standen oder saßen so starr wie er und konnten es nicht begreifen, dass sie hier unter Zeugen zwei Toten gegenüberstanden, die damals, genau vor einem halben Jahr, gestorben waren und nun wieder lebten.
Eric Walcott hatte sich auf Marietta zu bewegt. Nur sie konnte es noch als Ziel geben, und so blieb er in einem bestimmten Abstand vor ihr stehen.
Sie starrten sich an.
Es war ein Kampf der Blicke zwischen Mörder und Opfer, wobei beide gar nicht mehr unter den Lebenden weilten.
Sie blieben stumm, bis sich Eric Walcott gefangen hatte und endlich das loswerden konnte, was er wollte.
»Ich habe dich vernichtet, aber du bist wieder da. Ebenso wie ich. Und ich schwöre dir, dass es keine zweite Chance für dich geben wird. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Nein, für dich ist der Weg hier beendet. Für alle verfluchten Walcotts. Auch deshalb bin ich wieder zurückgekehrt. Einmal muss Schluss sein, und ich werde dafür sorgen.«
»Die Walcotts sind stark. Das waren sie schon immer, und ich werde es dir zeigen. Stirb, verdammt!«
Schreie lösten sich aus mehreren Kehlen. Aber sie waren nicht laut genug, um das Knattern der Maschinenpistole zu übertönen, die ihre Ladung genau in die Mitte von Mariettas Körper jagte…
***
Eine Pistole kannte man zu dieser Zeit noch nicht. Und so war auch der peitschende Klang neu, den die Schergen vernahmen.
Mit dem Einschlag der Kugel hatte der Halbnackte nicht gerechnet.
Er war gesprungen. Er hatte dabei den rechten Arm mit dem langen Dolch in die Höhe gerissen. Wahrscheinlich wollte er mir mit einem einzigen Hieb den Schädel spalten.
Aber dagegen hatte das geweihte Silbergeschoss etwas. Es war in die linke Seite der breiten Brust gedrungen und stoppte den Angreifer mitten in der Bewegung.
Er blieb noch schwankend auf der Stelle stehen. Ich trat sicherheitshalber etwas zur Seite, denn wenn er nach vorn kippte, konnte er mich mit dem Dolch noch verletzen.
Der Wille war vorhanden, nur fehlte ihm die Kraft zur Ausführung. Er brachte noch seinen linken Arm hoch und tastete mit der Hand nach der Wunde, aus der erstaunlich wenig Blut rann. Doch als er die Hand wieder zurückzog, da war sie auf der Innenseite beschmiert.
Vielleicht war das der Schock, der ihn in die Knie gehen ließ. Es sah so aus, als würde er sich ineinander falten. Ich hörte den letzten röchelnden Laut aus seiner Kehle dringen, dann kippte er um und fiel in den Staub.
Herzschuss!
Ich hatte ihn getötet, das wusste ich, und plötzlich kam mir die Stille zum Greifen vor. Das Sonnenlicht fiel bereits
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