15 Gruselstories
Spezialsorte an.
Das ließ ich mir alles gerade noch gefallen. Aber als er sagte: »Ich habe gestern abend deine Schwester gesehen«, reichte es mir. Damit ging er entschieden zu weit.
Ich öffnete den Mund – und klappte ihn wieder zu, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte. Was hätte ich auch auf diese Bemerkung hin sagen können? Ich hatte diesen Satz während ihrer Verlobungszeit wohl an die hundertmal gehört. Und das war damals auch ganz natürlich.
Es wäre auch heute noch ganz natürlich – wenn meine Schwester nicht vor drei Wochen gestorben wäre.
Joe Elliots Lächeln wirkte nicht sehr überzeugend, als er sagte: »Das klingt verrückt, nicht wahr? Aber es ist die Wahrheit. Ich habe Donna gestern nacht gesehen oder sagen wir mal: ihren Schatten.«
Ich fand immer noch keine Worte. Ich blickte ihn an und wartete, was nun wohl kommen würde.
»Sie kam zu mir ins Schlafzimmer und beugte sich über mich. Ich glaube, du weißt, daß ich seit dem Unfall immer Schwierigkeiten mit dem Einschlafen habe. Ich lag jedenfalls schlaflos im Bett und starrte die Decke an und hatte gerade überlegt, ob ich aufstehen und die Jalousien herunterlassen sollte, denn der Mond schien so hell. Als ich mich entschlossen auf die Seite drehte und die Beine aus dem Bett schwingen wollte, war sie da. Sie stand ganz einfach da, beugte sich zu mir und streckte die Arme aus.«
Elliot rutschte auf dem Sessel hin und her. »Ich weiß ganz genau, was du denkst! Der Mondschein fiel auf einen Gegenstand im Zimmer, durch den ein merkwürdiger Schatten entstand, und ich habe mir den Rest zusammengereimt! Oder du denkst, daß ich doch geschlafen und dabei geträumt habe, ohne es zu wissen. Aber ich weiß ganz genau, was ich gesehen habe! Es war Donna! Ich würde sie immer und überall erkennen. Auch wenn es – wie gestern – nur eine Silhouette war.«
Ich fand meine Sprache wieder, oder zumindest ein Krächzen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Stimme hatte. »Was hat sie gemacht?«
»Gemacht ? Gar nichts hat sie getan. Sie stand nur da und streckte die Arme aus, als warte sie auf etwas.«
»Auf was hat sie gewartet?« Elliot blickte auf den Boden. »Das ist verdammt schwer zu erklären«, murmelte er. »Es klingt so – ach, zum Teufel, wie es klingt! Als Donna und ich verlobt waren, hatte sie sich einen speziellen Trick angewöhnt. Wenn wir uns unterhielten oder irgend etwas Alltägliches taten, zum Beispiel nach dem Essen die Teller abgewaschen haben oder so – dann kam es häufig vor, daß sie ganz plötzlich und unmotiviert die Arme ausstreckte. Das war unser Spielchen, und ich wußte, was es zu bedeuten hatte. Sie wollte geküßt werden, und ich küßte sie dann. Du wirst furchtbar lachen, aber genau das habe ich auch in der letzten Nacht gemacht. Ich bin aufgestanden und habe ihren Schatten geküßt.«
Ich lachte nicht. Ich rührte mich nicht. Ich saß wie angewurzelt da und starrte gebannt auf seine Lippen. Da Elliot aber in brütendes Schweigen zu versinken schien, mußte ich etwas sagen, um das Gespräch in Gang zu halten. »Aha, du hast sie also geküßt. Und was geschah weiter?«
Er schaute mich an. »Nichts. Sie ging weg.«
»Sie verschwand?«
»Nein. Sie ging weg. Der Schatten ließ mich los, drehte sich um und ging durch die Tür.«
»Der Schatten ließ dich los?« Meine Stimme überschlug sich fast. »Willst du damit vielleicht sagen … ?«
Er nickte. Ein Nicken läßt sich schwer beschreiben, aber ich möchte sagen, es war eher eine resignierende als eine herausfordernde Bewegung. »Genau das«, murmelte er. »Als ich sie küßte, legte sie die Arme um mich. Ich – ich habe es gesehen – und ich habe es gefühlt . Ich habe auch ihren Kuß gespürt. Das war ein recht merkwürdiges Gefühl. Man küßt schließlich nicht alle Tage einen Schatten!
Weitere Kostenlose Bücher