1504 - Mordgeschichten
Raven kaum merkte. Er saß am Tisch, schaute aus dem Fenster und blickte eigentlich ins Leere, denn von der Landschaft draußen sah er nichts.
Das schrille Geräusch des Telefons riss ihn zurück in die Realität. Er war zusammengezuckt, hielt für einen Moment die Luft an und schüttelte den Kopf, weil er darüber nachdachte, wer zu dieser Zeit etwas von ihm wollte.
Er wartete ab. Es konnte sein, dass sich jemand verwählt hatte. Deshalb blieb er am Tisch in der Küche sitzen. Um abzuheben, musste er in das Arbeitszimmer gehen, was er noch nicht tat. Erst nach dem sechsten Anschlagen stand er auf. Er ging auch nicht besonders schnell, denn eigentlich hatte er keine Lust, den Hörer abzuheben, und als er es schließlich tat, da war die Leitung tot.
Mike Raven lächelte. Es freute ihn. Wenn jemand etwas von ihm wollte, dann würde er noch mal durchklingeln, davon war er überzeugt.
Vor dem Fenster hatten sich die dunklen Wolken verzogen. Die Sonnenstrahlen blitzten auf und lockten ihn ins Freie. Doch dazu hatte Mike keine Lust. Er hatte auch keinen Bock auf seine Arbeit. Er wollte zunächst mal im Haus bleiben. Auch weil er das Gefühl hatte, irgendwann wieder Besuch zu bekommen. Aaron war nicht vergessen!
Schließlich war er sein Kind. Er hatte ihn erfunden. In seiner Fantasie war er plötzlich aufgetaucht. Ein gewalttätiges Wesen, ein Killer, der blitzschnell tötete. Er hatte ihn - und das wurde ihm jetzt erst richtig bewusst - eigentlich nie so genau beschrieben. In seinen Geschichten kam Aaron als cooler Killer vor, schnell wie eine Klapperschlange und gnadenlos.
Er war wie ein Schatten, nicht zu fassen. Mike hatte ihm auch keinen Hintergrund gegeben. Das hatte er sich eigentlich für eine eventuelle Fortsetzung vorgenommen. Da hatte er Aaron aus diesem dunklen Pandämonium wieder hervorholen wollen.
Doch jetzt war alles anders. Der Killer war von allein erschienen, und er sah nicht aus wie jemand, der es noch nötig hatte, groß beschrieben zu werden.
Was war da los? Welche Verbindung gab es zwischen ihm und seiner von ihm erschaffenen Figur?
Raven hatte viel Fantasie. Dennoch war ihm eine genaue Erklärung nicht möglich. Er stand auf dem Schlauch. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand wie Aaron tatsächlich existierte, obwohl er ihn ja mit eigenen Augen gesehen hatte.
Oder war das alles nicht wahr gewesen? Hatte er sich geirrt? War er schon so weit, dass ihm seine Fantasie etwas vorgaukelte und er sie mit der Realität verwechselte?
Es war alles irgendwie möglich.
Die Begriffe Wahn und Wirklichkeit kamen ihm in den Sinn. Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. Er dachte daran, dass viele Künstler dem Wahnsinn verfallen waren, weil sie sich in anderen Welten befanden und sich eigentlich nur noch körperlich in der Realität aufhielten.
Ich bin auf dem Weg dorthin!, musste er sich selbst gegenüber eingestehen. Es ist der Anfang, und wo es einen Anfang gibt, da existiert auch ein Ende. Davor fürchtete er sich!
Stark war Raven nur in seinen Geschichten. Da konnte der Held das leisten, was er gern gewollt hätte. Die Wirklichkeit aber sah anders aus.
Er empfand sie als beengt, denn als Mensch bewegte er sich nur in einem kleinen Gebiet. Dort kam er nur raus, wenn er schrieb. Da waren dann die Grenzen aufgehoben. Da gehörte ihm die Welt, und er konnte sich selbst die Freiheiten geben, die er sonst nie hatte.
Wieder meldete sich das Telefon.
Erneut schrak Mike Raven zusammen. Es gab prinzipiell keinen Grund, Furcht vor einem Anruf zu haben, und trotzdem hatte er sie.
Er fühlte sich aus seinem Alltag herausgerissen. Er wusste, dass es Ärger geben konnte, obwohl seine Nummer nur wenigen Menschen bekannt war, schon gar nicht Leuten, mit denen er privaten Kontakt hielt.
Davon gab es zudem nur wenige.
Wer also rief an?
Sean Cole! Ja, so konnte es nur sein.
Raven lachte auf. Cole, der Gierige. Der Mensch, dem er den vierten Teil versprochen hatte. Derjenige, der ihn überhaupt gedrängt hatte, einen vierten Teil zu schreiben, weil sich die Trilogie so erfolgreich verkauft hatte. Cole also!
Raven hob ab. Dabei rann ein kalter Schauer über seinen Rücken. Seine Stimme klang leise, als er fragte: »Wer ist da?«
»Ach, Sie sind ja doch zu Hause, Mike.«
»Sean Cole?«
»Ja, ich bin es.«
»Nun ja…«
»Waren Sie verschwunden?«
»Wieso?«
»Ich habe schon mal angerufen. Vor ein paar Minuten. Da haben Sie nicht abgenommen.«
»Ich war draußen.«
Cole lachte. »Ist bei
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