1529 - Tochter, Mutter, Teufelssaat
gibt. Wir haben das Geld für dich in Verwahrung genommen, meine Liebe. Es ist besser so.«
Elisa spürte Wut in sich hochsteigen.
Ihr Gesicht verzerrte sich. Am liebsten hätte sie die Wut hinausgeschrien, doch sie riss sich zusammen und flüsterte: »Scheiße, verdammte Scheiße. Jetzt stehe ich auf dem Schlauch.«
Ganz mittellos war sie nicht. Etwas über dreißig Euro besaß sie noch.
Das reichte nicht für eine Zugfahrt in den Norden, denn sie hatte vorgehabt, die Eltern ihrer Zimmergenossin zu besuchen, die sie recht gut kannte. Mit Christine war sie schon mal bei ihnen gewesen, und es hatte ihr gut gefallen. Außerdem waren Christines Eltern sehr nett gewesen. Andere Menschen außerhalb des Internats kannte sie zwar, aber sie vertraute ihnen nicht.
Doch auch mit dem wenigen Geld wollte sie fliehen. Jede Unannehmlichkeit kam ihr noch besser vor, als ein Zusammentreffen mit ihrer Mutter.
So musste sie das sehen, und deshalb machte sie sich auch keine großen Gedanken.
Elisa zerrte den Reißverschluss der Reisetasche zu, zog noch die dunkle Jacke über, die aus weichem Cordstoff bestand und verließ das Zimmer.
Sie hatte auch nicht vergessen, ihrer Freundin Christine eine Nachricht zu schreiben. Der Zettel lag auf dem Kopfkissen, aber sie hatte in dieser Nachricht nicht erwähnt, wohin sie wollte. Du hörst wieder von mir, das war der letzte Satz gewesen.
Für Elisa war es wichtig, dass sie nicht entdeckt wurde, denn ihre Reisetasche konnte nicht übersehen werden. Leider gab es nur eine Strecke, die sie nehmen konnte. Die Rückseite war einfach zu dicht mit Wald bewachsen, da hätte sie sich durchkämpfen müssen. Deshalb setzte sie darauf, dass man sie nicht sah. Sicher konnte sie nicht sein.
Sie durfte nur kein zu auffälliges Verhalten zeigen.
Die Anspannung trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Sie atmete nicht mehr so ruhig; die Furcht vor einer Entdeckung ließ sie zittern, und erst als sie durch die Tür ging und sich nach links wandte, um zu ihrem Rad zu gelangen, ging es ihr besser.
Keiner hatte sie gesehen. Niemand hatte sie angehalten. Bisher leistete ihr Schutzengel ganze Arbeit, und sie hoffte, dass dieser Zustand noch lange anhielt.
Es gab einen recht großen freien Platz vor dem Internat. Den musste sie erst überqueren, bevor sie in den Weg einbiegen konnte, der hinunter zum Ort führte.
Elisa verdrängte den Gedanken, sich noch mal umzudrehen. Das wollte sie nicht. Nein, nicht mehr schauen, ob jemand aus dem Fenster blickte.
Sie setzte einfach darauf, dass sie Glück hatte.
Die Furcht vor der Erinnerung an ihre Mutter war wie ein Motor, der sie vorantrieb. Und mit jedem Herzschlag schien dieser Motor an Stärke zu gewinnen.
Es erwies sich jetzt als Vorteil, dass sie die abwärts führende Strecke so gefahren war. Sie kannte alle Tücken, alle Kurven, und das kam ihr jetzt zugute.
Zwei Schülerinnen begegneten ihr. Dass sie etwas erzählen würden, da musste sie keine Angst haben. Es waren welche aus der zweiten Klasse.
Mit den Kleinen hatte man so gut wie keinen Kontakt.
Sie huschte vorbei und näherte sich dem Ort. Von ihrer Mutter wollte sie nichts mehr. Am besten für ihr Leben war es, wenn sie die Frau vergaß, aber sie wusste auch, dass sie es nicht konnte. Ihre Herkunft würde immer wie ein Makel auf ihr lasten…
***
Schwester Agnes wusste, dass die Zeit des Versteckspielens vorbei war.
Lange genug hatte sie gedauert, aber jetzt war Elisa alt genug, um die Wahrheit zu erfahren, und Camilla wusste, dass sie eine Nachfolgerin brauchte. Sie hielt es nicht mehr durch. Sie würde einen bestimmten Weg gehen, und dazu brauchte sie jetzt die nötige kraft, die ihr nur die Tochter geben konnte.
Es war alles perfekt. Beide konnten zufrieden sein, auch Agnes. Als sie lächelte, verzogen sich ihre Lippen nur ein wenig. Es war ein hinterlistiges Lächeln, das um ihrem Mund zu sehen war, aber sie spürte auch, dass es so etwas wie einen Triumph beinhaltete.
Der erste Schritt war getan. Elisa hatte ihre Mutter gesehen, und es musste für sie wie ein Schock gewesen sein, eine Frau zu erblicken, wie Camilla es war.
Agnes hatte sich vorgenommen, mit der Schülerin darüber zu reden.
Nicht sofort, sie wollte ein, zwei Stunden verstreichen lassen und dann zu ihr ins Zimmer gehen.
Die Schülerin ahnte ja nicht, wie Schwester Agnes zu Camilla stand. Es würde sie schockieren, wenn sie die Wahrheit erfuhr, aber der Zeitpunkt war gut.
Agnes lebte in einem Zimmer, das recht klein
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