1547 - Adel vernichtet
eine Frage stellte: »Du hast den Artikel gelesen, John?«
»Natürlich.«
»Sehr gut. Das hat ein gewisser Victor Wilder auch.«
Ich sah plötzlich Land. »Und wer ist das?«
»Ein Sozialarbeiter. Er leitet ein Obdachlosenasyl und ist sich sicher, dass die drei Personen in seinem Haus übernachtet haben. Und das nicht nur einmal.«
Mein Herz schlug schneller. »Du hast mit dem Mann geredet?«
»Ja, und ich werde mich mit ihm treffen.«
»Wo?«
»An seiner Arbeitsstelle.«
»Suko und ich kommen hin.«
»Das wollte ich soeben vorschlagen. Das Asyl befindet sich nahe der Themse. Früher gab es dort ein Heim für Seeleute. Das allerdings hat man aufgegeben.«
»Bitte die genaue Anschrift.«
Ich erhielt sie.
Es stand noch nichts fest, aber ich sah Licht am Ende des Tunnels und hoffte, dass uns dieser Weg zum Mörder führte…
***
Flucht!
Ein toller Begriff. Ein Wort, das ihr gefiel, aber Dinah Cameron wusste auch, dass sie diesen Gedanken nicht in die Praxis umsetzen konnte, denn der Butler blieb wie ein Wachhund an ihrer Seite und ließ sie nicht aus dem Blick.
Sie hatte sich zwar etwas erholen können, viel besser ging es ihr leider nicht. Noch immer steckte die Angst tief in ihr, und jeder Schritt durch dieses verdammte Haus wurde ihr zur Qual.
Sie hätte nie damit gerechnet, auf derartige Menschen zu treffen. Sie hätte sich nicht mal vorstellen können, dass es Personen wie die de Geaubels gab. Adlige, die aus der Spur gelaufen waren und eine Nahrung zu sich nahmen, bei der es einem normal denkenden Menschen einfach nur schlecht werden konnte.
Automatisch wehrte sie sich, als sie zusammen mit dem Butler das Speisezimmer betreten sollte. Sie wollte nicht über die Schwelle treten, aber Clarence, der dies bemerkt hatte, drückte ihr seine gespreizte Hand gegen den Rücken.
»Geh wieder an den Tisch!«
Das musste sie. Die de Geaubels saßen noch immer dort. Das Hauptgericht stand nicht mehr vor ihnen. Dafür drei Schalen, in denen sich wahrscheinlich das Dessert befand.
Der Marquis legte den Löffel zur Seite, den er bisher in der Hand gehalten hatte. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln.
»Ah, unser Gast ist zurück.«
Dinah gab keine Antwort. Das übernahm der Butler.
»Ihr war nicht wohl. Ich denke, dass es ihr jetzt besser geht.«
»Das würde uns alle freuen. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz, meine Liebe.«
Dinah Cameron ging mit weichen Knien auf ihren Stuhl zu. Sie wusste, das ihr keine andere Möglichkeit blieb. Sie fühlte sich, als wäre sie aus ihrem eigenen Körper herausgetreten und würde neben sich selbst hergehen. Aber sie wusste auch, dass sie keine Chance hatte. Sie musste mitspielen und so lange warten, bis sich ihr vielleicht eine Möglichkeit zur Flucht bot.
Clarence rückte ihr sogar den Stuhl zurecht, damit sie ihren alten Platz einnehmen konnte. Danach räumte er das Geschirr weg, auf dem das Hauptgericht serviert worden war.
»Ja, Sie sehen jetzt besser aus«, sagte der Marquis.
Dinah hob nur die Schultern.
»Es ist schade, dass Sie unsere Delikatessen nicht gekostet haben. Sie haben da wirklich etwas verpasst, kann ich Ihnen sagen. Man muss mal die eingefahrenen Wege verlassen, das gilt auch für die Mahlzeiten. So sehen wir das.«
»Ich esse keine gebratenen Menschenherzen«, erklärte sie.
»Schade.« Der Marquis deutete auf seine Schale. »Ich möchte Ihnen das Dessert offerieren und…«
»Danke, ich verzichte.«
»Sie wissen doch noch gar nicht, was es ist.«
»Ich verzichte trotzdem.«
Der Sohn meldete sich mit einem Kichern, bevor er sagte: »Es ist Honig. Das machte die Augen süß…«
Dinah Cameron schluckte. Sprechen konnte sie nicht mehr. Aber sie hatte genug gehört, und sie war froh, dass Eric nicht weitersprach. Er schaufelte die schleimige Masse in seinen Mund hinein. Sein rundes Gesicht zeigte dabei einen Ausdruck des Entzückens, und Dinah wendete angeekelt den Blick ab.
Es wurde nicht mehr gesprochen. In der Stille klang das Schlürfen und Schmatzen der Essenden besonders laut. Die Journalistin hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, aber sie wollte sich diese Blöße nicht geben.
»Ausgezeichnet«, lobte der Marquis und sah, dass seine Frau ebenfalls zufrieden lächelte. Er trank einen Schluck Wein und wies auf das Glas seines Gastes. »Trinken Sie doch auch. Der Wein ist einfach zu schade, um ihn im Glas zu lassen.«
»Vielleicht. Im Moment ist mir nur nicht danach. Ich - ich - möchte nicht.«
»Wenn Sie meinen.« De
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