1610 03 - Soehne der Zeit
»Die Frage ist nur: Können wir den Spieß umdrehen? Können wir stattdessen ihm – ihnen – eine Falle stellen. Mit Tanaka Saburo, diesem Hurensohn, habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen.«
»Kreuzigung.« Gabriel Santon streckte gequält die Hand aus und imitierte mit der anderen das Zuschlagen mit einem Hammer. »Du wirst schon sehen …«
Da ich immer wieder zu den Hinrichtungsplätzen gegangen war, um dort nach Fludds Leiche zu suchen – auch das hätte ja geschehen können –, war ich nun in der Lage, Gabriel zu korrigieren. »Tatsächlich binden sie einen da oben fest. Mit einem Seil. Nägel können sie sich nicht leisten. Und in deinem Fall wären davon wohl jede Menge nötig.«
Gabriel verzog das Gesicht zu einer Mischung aus Humor und Sorge, die ihren Ursprung in der Grausamkeit der hiesigen Fürsten hatte. Ich ging in mein Zimmer.
Am Abend und in der Nacht passierte nichts weiter. Ich hörte, wie die nächtlichen Schmutzsammler mit ihren Eimern herumwerkelten. Nachdem sie gegangen waren, herrschte Stille. Noch nicht einmal eine Ratte war unter dem Dach zu hören.
Ungefähr zur Stunde des Wolfs (die man hier die Stunde des Hasen nannte), wenn eine falsche Dämmerung den Himmel erhellt, bemerkte ich einen Schatten an der inneren Tür. Das störte mich nicht, denn ich erkannte den Schatten sofort.
»Mademoiselle.«
Ich kroch über die Tatami zur Tür und schob sie auf, sodass ich ihr Gesicht in dem grauen Licht sehen konnte. Dann hielt ich inne, und mein Herz schlug mir bis zum Hals.
»Diese Wände sind so dünn … aber Ihr werdet feststellen, dass die Menschen hier nur sehen, was sie sehen wollen. Wir sind also allein, wenn Ihr es begehrt.«
Bei dem Wort ›begehrt‹ drohte mir die Stimme zu versagen.
Noch nicht einmal den Hauch eines Lächelns erhielt ich zur Belohnung.
Dariole ergriff meine Hand so stumm, wie ich sie ihr reichte. »Ich wollte ihn tot sehen. Das hätte das alles hier gelöst.«
Das Licht, das durch die shaji genannten Wandschirme fiel, ließ mich nur wenig von ihrem Gesichtsausdruck erkennen. Den Schirm zur Veranda schob ich nicht beiseite.
»Es hat mich ehrlich gesagt ein wenig gewundert, dass Ihr diesen Luke nicht gejagt habt«, sagte ich leise.
Dariole schüttelte den Kopf; die Bewegung hatte etwas Ungeduldiges an sich. »Er war Fludds Hände, Fludds Augen und Fludds Schwanz. Fludd ist noch nicht einmal geblieben, um zuzuschauen.«
Ich runzelte die Stirn. »Und das wäre besser gewesen?«
»Dann hätte ich es zumindest verstanden!«
Vermutlich war in Les Halles, wo sie mit den Huren gewohnt hatte, weit mehr passiert, als sie mir je erzählt hatte. Vor zwei Jahren hätte ich sie für dumm genug gehalten, einfach nur aus Spaß als Hure zu arbeiten. Sie versteht Männer nur teilweise – aber was sie weiß, ist heftig.
Dariole kletterte an mir vorbei über die Matten und in den Raum und schickte sich an, den Außenschirm ein, zwei Zoll zu öffnen. Warme Luft strömte herein. Ich rutschte zu meinem Bettzeug zurück, und Dariole hockte sich wortlos zu meinen Füßen. Trotz der Wärme der ausklingenden Nacht fühlte sich ihre Haut, dort, wo ich in Kontakt mit ihr kam, eiskalt an.
»Wir sollten uns vielleicht einmal überlegen«, sagte ich, »wie empört Euer Angreifer Luke über einen Herrn sein würde, der auf Basis seines grundlegenden Charakters Berechnungen anstellt … Würde das einen Mann in seinen Diensten nicht ausgesprochen misstrauisch machen?«
Ich kenne keine andere Frau, die derart bereitwillig halb ernst, halb spöttisch auf ein Thema eingeht wie Mademoiselle Dariole. Nicht der Hauch von Verwirrung zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie schwach lächelte.
Das Lächeln verschwand rasch wieder. »Da ist ein ›wir‹, nicht wahr, Messire?«
»Seit ich Messire für Euch bin, wollt Ihr mich auf den Knien sehen oder … was auch immer Euch sonst gefällt.«
Ihre Augen wirkten groß und dunkel in dem leeren Raum. Es war unmöglich zu sagen, ob sie sich aus Angst oder Erregung verdunkelten, vielleicht auch aus beidem.
»Und was, wenn ich das niemals kann?«
»Schschsch, Mademoiselle.« Ich tat, wonach ich mich schmerzlich gesehnt hatte. Ich saß auf meinem Bettzeug und streckte die Hand nach ihr aus. »Ihr seid so jung! Was ist schon ein Jahr? Nichts! Ihr seid verletzt worden. Aber ich kann länger warten als Euer ›niemals‹.«
Sie beugte sich vor und drückte die Lippen auf meinen Mund, ungenau in dem schlechten Licht. Sie fühlte sich warm und
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