1616 - Mörderengel
auch nie gewollt, doch dieses Alleinsein bereitete ihm jetzt Sorgen. Er wusste, dass der Feind in der Nähe lauerte, dass er nicht sichtbar war und aus dem Unsichtbaren zuschlagen würde.
Aber wann? Und wo steckte er? War es ihm tatsächlich schon gelungen, in das Yard Building einzudringen, oder war alles nur ein Bluff gewesen?
»Nein, nicht bei ihm!«, flüsterte Sir James und legte seine Hand erneut auf die Krone.
Für einen Moment fühlte er sich sicher, als würde dieses Gefühl von der Krone auf ihn übergehen. Das war natürlich nicht der Fall. Wenn die Krone ihm Sicherheit geben sollte, durfte er sie nicht auf dem Schreibtisch stehen lassen.
Also aufsetzen und sich so in Sicherheit bringen. Es kam ihm schon seltsam vor, dass er zögerte. Er musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, hier keinen fremden Gegenstand vor sich zu haben, sondern einen Freund, der ihn beschützte.
Er musste sich überwinden. Es begann damit, dass er beide Hände auf die Krone legte. Dann hob er sie an und hielt sie für einen Moment über seinen Kopf.
Warten, noch mal tief durchatmen, danach ließ er die Krone langsam sinken. Er spürte, wie sie über sein Haar streifte, dann ließ er sie noch weiter sinken.
Jetzt saß sie auf seinem Kopf.
Genau in diesem Augenblick erlebte er das Rieseln, das durch seinen Körper floss. Es musste sich etwas verändert haben, aber es störte ihn nicht. Die Krone saß auf seinem Kopf, als hätte sie dort schon immer hingehört. Sir James musste sich nur mit dem Gedanken vertraut machen, jetzt unsichtbar zu sein. Es gab keinen Menschen in der Nähe, der ihm das bestätigt hätte.
Sein Körpergefühl war geblieben. Es gab keine Veränderung, ihm war auch nicht schwindlig, es lief alles seinen normalen Gang. Sogar den Schweiß auf der Stirn spürte er, tupfte ihn aber nicht weg und nahm auch nichts von seinem Schreibtisch hoch, der so stand, dass der daran Sitzende zum Fenster schauen konnte.
Sir James dachte nicht daran, aufzustehen, obwohl ihm der Gedanke mehrmals kam. Er fühlte sich noch immer fremd und konnte sich nicht zu dieser Reaktion überwinden.
Es war sogar möglich, dass er so lange auf dem Platz blieb, bis Glenda Perkins mit John Sinclair und Suko zurückkehrte. Das war so etwas wie ein Wunschtraum.
Er sah alles, doch er wurde nicht gesehen. Aber etwas irritierte ihn, denn er sah, dass sich hinter der Fensterscheibe etwas bewegte. Es war schnell erschienen und ebenso schnell wieder verschwunden, sodass er schon an eine Täuschung glaubte.
Doch dann sah er es wieder.
Die Bewegung kehrte zurück. Es war ein Huschen, etwas Schattenhaftes, das einen Moment später zur Ruhe kam.
Hinter der Scheibe schwebte tatsächlich eine Gestalt in der Luft. Groß, mit zwei Flügeln.
Rasmus, der Mörderengel!
***
Es war ein Augenblick, in dem die Zeit einzufrieren schien. Nichts mehr war noch wie vor wenigen Sekunden. Vor dem Fenster schwebte die bewaffnete Gestalt und starrte aus ungewöhnlich leeren Augen ins Büro.
Sir James rechnete damit, dass dieser Mörderengel eine der Waffen anheben und auf ihn schleudern würde.
Das geschah nicht. Rasmus reagierte überhaupt nicht auf ihn. Er starrte ins Zimmer und bewegte dabei sogar seinen Kopf, um in alle Ecken schauen zu können.
Erst jetzt fiel von Sir James die Spannung ein wenig ab, als er feststellen musste, dass die andere Gestalt ihn ja gar nicht sehen konnte. Das war es, und daran hatte er sich erst gewöhnen müssen. Er war nicht zu sehen, er war unsichtbar, und das auch für eine nichtmenschliche Gestalt wie diesen Engel.
Der Superintendent hatte den Atem angehalten. Jetzt merkte er, dass er das nicht mehr brauchte. Der Mörderengel konnte ihn nicht sehen, aber er verschwand auch nicht von der Scheibe. Er wollte offenbar ins Haus, und das konnte er am besten, wenn er durch ein Fenster kam.
Der Rundblick durch das Büro hatte ihm ausgereicht. Jetzt musste er etwas unternehmen, und Sir James zuckte als unsichtbarer Beobachter zusammen, als er sah, dass Rasmus seinen rechten Arm zusammen mit der Lanze nach hinten bewegte und dann ausholte.
Es war eine Bewegung, die nur auf eines hindeutete. Er wollte die Scheibe zerstören, um freien Eintritt zu haben.
Die Waffe traf - und das Glas zersprang!
Es gab nicht mal ein lautes Geräusch. Kein Splittern wie bei normalem Glas. Das hier war schallschluckend, auch dicker, aber die mächtige Lanzenspitze hatte es zerstört und dafür gesorgt, dass ein Netz aus Rissen und Sprüngen
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