162 - Das Grauen aus der Baring Road
am Schauplatz eintraf. Die Sanitäter hatten Schwierigkeiten, mit dem schweren Bleisarg die Böschung hinunterzusteigen. Bis die vorhandenen Spuren gesichert und aus allen nur denkbaren Blickwinkeln fotografiert waren, verging eine gute halbe Stunde. Dann erst setzte der Zug sich wieder in Bewegung und fuhr in die nicht einmal einen halben Kilometer entfernte St. John's Station ein. Den Pelzmantel nahm ein Mann von Scotland Yard an sich. Danach zeugte nicht mehr sehr viel von dem Unglück; in einigen Tagen würden weitere Regenfälle auch das Rot von den Schienen und dem Schotter abgewaschen haben.
„Sind Sie wenigstens auf Ihre Kosten gekommen?" wurde Dorian unvermittelt von einem Polizisten angesprochen. „Ihr Reporter seid mitunter schon eiskalte Burschen."
„Ich tue nur meine Arbeit", widersprach der Dämonenkiller. „Wie Sie auch."
,,… das Unglück anderer bis ins letzte Detail auskosten und breittreten? Wissen Sie, wie ich das nenne?"
„Behalten Sie es lieber für sich."
„Ihr Schreiberlinge seid die reinsten Leichenfledderer, nur auf Profit aus. Wahrscheinlich gehören Sie auch zu denen, die die Docklands der Fleet Street vorziehen und schuld daran sind, daß ein Heer von Druckern arbeitslos ist."
Dorian erwiderte nichts; es war sinnlos, sich auf eine Diskussion einzulassen. Was das spezielle Thema anbelangte, befand er sich ohnehin in einer Zwickmühle, denn er war früher tatsächlich Reporter gewesen und wäre es wohl heute noch, hätte er nicht vor Jahren diese lockenden Stimmen im Traum gehört, die ihn nach Schloß Lethian an die jugoslawische Grenze führten. Erst der Strudel der Ereignisse um seine dämonischen Brüder hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war: zum Dämonenkiller.
Es war kurz nach ein Uhr dreißig, als Dorian Hunter zusah, wie erst die Ambulanz und nach einer Weile auch die Polizisten wegfuhren. Anwohner und Passanten hatten sich zusammengefunden und diskutierten teils recht lebhaft miteinander. Von dem Mann mit der sportlichen Figur, dem schwarzen Haar und dem herabhängenden Schnurrbart nahm kaum jemand Notiz. Erst als er erneut zu den Gleisen hinunterstieg, machten etliche Personen neugierige Augen. Keiner wußte sich zu erklären, was der Mann suchte. Mehrmals ging er auf und ab, blieb immer wieder stehen und ließ allem Anschein nach ein Medaillon oder etwas Ähnliches zwischen seinen Fingern pendeln.
Palawaikö erkannte den Mann sofort wieder, dem er seine Niederlage in den Superstition Mountains Arizonas letztlich zu verdanken hatte. Durch die Augen seines Sklaven sah er ihn so nahe, als stünden sie sich unmittelbar gegenüber. Aber Slikker versagte; aus irgendeinem Grund widersetzte er sich, Dorian Hunter zu töten.
Der Dämon des Krummen Berges, wie die Pima-Indianer Palawaikö auch genannt hatten, hatte kurz nach seinem Erwachen schon einmal versucht, sich an Hunter zu rächen. Starke magische Einflüsse hatten es ihm jedoch unmöglich gemacht, lange genug in dessen Haus zu verweilen.
Inzwischen wußte Palawaikö viel über seine neue Umgebung. Er vermochte sich sogar auszurechnen, daß er mehr als 400 Jahre als Gefangener in den Aberglaubenbergen zugebracht hatte. Die Große Stunde eines Francisco Pizarro lag lange zurück. Am Untergang des Inkaherrschers Atahualpa war Palawaikö zwar nicht direkt beteiligt gewesen, doch wußte er davon, und ohne dämonische Hilfe hätten die Spanier in der Schlacht nie bestehen können. Nur 168 Landsknechte hatten damals einer Heerschar von über 100 000 kampferprobten Kriegern gegenübergestanden.
Palawaikö hatte herausgefunden, daß auch das Land England, in dem er sich nun befand, mit Spanien Krieg geführt hatte. Doch das lag ebenfalls lange zurück.
Es mußte für ihn einen Weg geben, Dorian Hunter zu töten, ohne sich selber einer Gefahr auszusetzen. Palawaikö stellte eine einseitige gedankliche Verbindung zu seinem Sklaven her. Er nahm eine eigenartige Ausstrahlung wahr, die ihn sofort interessierte. Durch Slikkers Augen sah er sich einem verwachsenen Menschen gegenüber, einer Frau, der man noch vor Jahrhunderten ihres körperlichen Gebrechens wegen Besessenheit nachgesagt hätte. Tatsächlich haftete ihr, wenn auch kaum merklich, etwas Dämonisches an. Palawaikö besaß ein außerordentliches Gespür dafür. Dieses Geschöpf würde ein guter Verbündeter sein.
Niemand bemerkte den Schatten, der hastig durch die Straßen eilte. Palawaikö besaß nur dann die Fähigkeit, Entfernungen auf magische Weise zu
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